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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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Böses: Eine Luftnot dieser Art kann von einem schwerkranken Herzen kommen. Wahrscheinlich hatte der Mann gerade wieder einen Infarkt.
    Jetzt musste ich mich schnell entscheiden: Der Zustand des Patienten war eine Situation für den Notarzt. Wenn wir ihn nachforderten, würde es inklusive der Alarmierung aber acht bis zehn Minuten dauern, bis er bei uns eintraf. Wir hingegen standen nicht einmal zwei Minuten Fahrzeit vom zuständigen Krankenhaus entfernt. Der in der Notaufnahme zuständige Arzt konnte uns aber auch zusammenstauchen, wie wir es überhaupt wagen könnten, einen akut lebensbedrohten Patienten ohne Notarzt zu transportieren. Sicher, der hätte den Patienten schon am Notfallort mit Medikamenten antherapiert. Da ich aber der Meinung war, dass der Herr möglichst schnell eine Klinik sehen sollte, blieb das Risiko, dass dem Patienten schon vor unserem Eintreffen das Herz stehenblieb. Es blieb außerdem das Risiko, mich mit einem aufgebrachten Ambulanzarzt herumstreiten zu müssen. Aber vor Ort gab es für uns nichts Sinnvolles zu tun, so viel war klar.
    «Hör mal, da nehmen wir uns jetzt keine Zeit mehr, der Mann muss sofort von hier weg», sagte ich zu Kevin. Auch er hatte gemerkt, dass ich die Sache als sehr ernst einschätzte und es jetzt schnell gehen sollte. Wir packten also den Mann an Oberkörper und Beinen, legten ihn auf die Trage und schoben ihn in den RTW . Während Kevin zügig und mit Alarm losfuhr, setzte ich dem Patienten schnell eine Sauerstoffmaske auf und klemmte ihm das Pulsoximeter an den Finger, das mir den Sauerstoffgehalt im Blut verriet. Für mehr blieb auf dem kurzen Weg keine Zeit.
    Die wenigen Minuten reichten aber aus, dass mir nonstop Gedanken durch den Kopf rasten. Was, wenn der aufnehmende Arzt gerade irgendwo im Krankenhaus unterwegs war? Wie lange würde es dann dauern, bis er zurück in der Notaufnahme war? Oder wenn er, ohne den Patienten zu sehen, entschied, erst einen anderen Notfall zu Ende zu behandeln? Manchmal halten Ärzte unsere Verdachtsdiagnosen ja für übertrieben. Dann müsste ich ganz schön Ärger machen und per Haustelefon die Krankenhaus-Piepser für einen Herzalarm auslösen. In maximal zwei Minuten wären daraufhin ein Kardiologe und zusätzliches Personal mit Notfallkoffer, Beatmungsgerät und Defibrillator in der Notaufnahme, bereit, um einen Patienten zu reanimieren. Dieses Team hätte dann Zeit für unseren Mann auf der Trage. In maximal sechzig Minuten wäre ich aber beim Chef. Der hätte bestimmt spontan Zeit für mich. Mit ihm und dem Verantwortlichen des Krankenhauses müsste ich schließlich kreativ erörtern, ob es ein Problem in der Krankenhaus-Personalpolitik gibt oder ob ich eines mit meinem Selbstverständnis habe, wenn ich am diensthabenden Ambulanzarzt vorbei nach dreißig Sekunden Wartezeit selbständig einen Herzalarm in der Notaufnahme auslöse. Hatte ich dazu ein Recht? Trotz vieler Bedenken erschien mir diese Idee aber immer noch als die beste, da es dem Mann wirklich nicht gut ging.
    Und wenn er mir jetzt auf dem Transport verstarb, weil ich entschieden hatte, keinen Notarzt zu alarmieren und ihn ohne diesen ins Krankenhaus zu fahren? Konnte ich wegen fahrlässigen Handelns verklagt werden, weil ich mich nicht an die Vorschrift gehalten hatte, sofort einen Notarzt zu bestellen? Tausend Fragen tauchten auf, die alle ohne Antworten blieben.
    Rasch bereitete ich noch den Beatmungsrucksack vor, den ich ins Krankenhaus mitnehmen wollte, damit der Patient auch auf dem Weg vom RTW in die Notaufnahme mit Sauerstoff versorgt werden konnte – und einen Moment später waren wir schon da. Um uns telefonisch anzukündigen, damit ein Team in der Notaufnahme bereitstand, wie es bei solch dringenden Notfällen normal wäre, war die Zeit ebenfalls zu knapp gewesen. Zumal ich wusste, wie lange es dauern kann, um von der Pforte mit dem zuständigen Arzt verbunden zu werden. Der Doc wird in solchen Fällen von der Pforte angepiepst und sieht auf seinem Funkmelder nur die Nummer der Warteschleife, in der mein Anruf geparkt wurde. Es kann einige Minuten dauern, bis er am nächsten Telefon die Nummer der Warteschleife wählt, um meinen Anruf entgegenzunehmen.
    Kevin fuhr in die Krankenwagenhalle, danach beeilten wir uns, die Trage herauszuziehen. Der Patient atmete trotz Sauerstoffgabe immer noch sehr schwer. Zügig schoben wir die Trage in die Notaufnahme. «Können wir mal ganz fix einen Arzt haben?», fragte ich hektisch die Ambulanzschwester, die aus

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