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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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nicht an den schnöden Sandresten der letzten Pflasterarbeiten.

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    Kapitel 15 Wenn es Zeit ist zu gehen …
    Im Rettungsdienst wird man oft überrascht. Einsatzstichworte, die einer Rettungswagenbesatzung bei der Alarmierung mitgeteilt werden, können nämlich schwer danebenliegen. Der Disponent in der Leitstelle sieht sich schließlich verschiedensten Problemen gegenüber: Die Anrufer sind in der Regel sehr aufgeregt, können als Laien nicht einschätzen, welche Informationen wirklich wichtig sind, und nicht zuletzt gibt es oft auch Sprachbarrieren. Aus dem, was der Disponent herausbekommt, muss er sich vielfach das Notfallgeschehen «zusammenbasteln». Er muss sich für ein Alarmstichwort entscheiden, das er in den Leitstellenrechner eingibt, um einen Vorschlag des Computers zu erhalten, welche Fahrzeuge für diesen Notfall vorgesehen sind.
    Ist ein Anrufer sehr erregt oder kann einfach keine genauen Angaben machen, erscheint auf unserem Piepser-Display zum Beispiel ein unspezifisches Stichwort wie « HP Straße», also «hilflose Person auf der Straße». Dieses – sagen wir mal – «Verzweiflungsstichwort» schreibt der Leitstellendisponent häufig, wenn er aus der Notrufmeldung trotz mehrmaligem Nachfragen nicht richtig schlau wird. Also wenn der Anrufer bloß «im Vorbeifahren» jemanden gesehen hat, von dem er annimmt, dass es ihm schlechtgehen könnte. Noch öfter ist dieses Stichwort allerdings eine Umschreibung für eine Person, die es für eine tolle Idee hält, den Alkoholrausch auf dem Gehweg, in einem Haltestellenhäuschen oder in einem fremden Hauseingang auszuschlafen. Wobei die Umsetzung dieses grandiosen Einfalls völlig unabhängig von der Tages- oder Nachtzeit ist. Wir stoßen dann den Schläfer an, klären ihn darüber auf, dass ihm so kalt ist, weil er auf der Straße und nicht im Bett liegt, und dass es keine gute Idee ist, dort liegen zu bleiben. Die angesprochene Person steht danach meist mit etwas Hilfe auf und kann selbständig nach Hause gehen. Mehr oder weniger direkt. Manchmal sieht es allerdings so aus, als wolle sie prüfen, wie breit der Gehweg ist.
    Es rappelte an unserem Hosenbund, als wir gerade beim Frühstück in der Krankenhauskantine saßen. « HP Straße. Pyrmonter Straße 26 , vor dem Gebäude», lautete die Meldung.
    «Boh, wie kann man morgens schon so hackedicht sein», entfuhr es meinem Spannmann Kevin.
    «Vielleicht ein Übriggebliebener von gestern Abend», hielt ich dagegen.
    Das halb aufgezehrte Brötchen mussten wir liegen lassen, aber vom Kaffee verabschiedeten wir uns noch mit einem schnellen Schluck, danach liefen wir los. Es konnte schließlich einer der wenigen Fälle sein, in denen wirklich jemand Hilfe braucht, auch wenn das Stichwort, wie wir wussten, oft ein Garant für wenig Aufregung ist.
    Auf der kurzen Einsatzfahrt hätten wir uns das Sondersignal eigentlich sparen können: Es war kaum jemand unterwegs, der für uns hätte Platz machen müssen.
    «Das Hochhaus da vorne hat die Hausnummer 26 . Dort, auf der anderen Straßenseite. Da will man die betreffende Person gesichtet haben», meinte ich.
    Angestrengt schauten wir zwischen den vor dem Hochhaus geparkten Autos hindurch, aber auch die Fahrzeuge davor und dahinter ließen wir nicht aus. Bei Notfällen auf der Straße ist die genannte Hausnummer oft nur eine ungefähre Ortsangabe. Und tatsächlich: Ein Haus weiter stand ein älterer Herr, der sich an der Gebäudewand abstützte.
    Wir wendeten das Auto, hielten bei ihm an und stiegen aus. Der über siebzigjährige Mann trug einen dunklen, abgewetzten Mantel, neben ihm auf dem Boden lag eine lederne Aktentasche. Beim Näherkommen hörte ich, dass er am Japsen war. Er sah aus, als wäre er schon ein paar Stunden tot: leichenblass, mit blauen Lippen, kaltschweißig. So lehnte der hagere Mann an der grauen Hausmauer. Also doch kein Bacchus-Verehrer, dachte ich.
    «Hallo! Haben Sie Asthma?», fragte ich.
    «Nein», sagte der Mann, während er nach Luft rang. «Vor Jahren hab ich … mal Asthma gehabt, aber

seitdem … nicht wieder.»
    Kevin holte bereits die Trage, da klar war, dass dieser Patient nicht mehr fähig war, selbst zum Auto zu laufen.
    «Haben Sie Schmerzen in der Brust?», wollte ich weiter wissen. «Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?»
    Er gab an, im Moment keine Schmerzen zu empfinden, aber vor einem Jahr habe er einen Herzinfarkt gehabt. Danach fehlte ihm für weitere Antworten einfach die Luft. Mir schwante

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