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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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stand er unter Stöhnen (übrigens alle, nicht nur er) tatsächlich auf. Und unter Ausnutzung des letzten wohnlichen Freiraums wackelte er mit seinen Massen, die «saugend» durch den Wohnungsflur passten, zur Trage vor dem Haus. Amüsiert schauten wir uns an, natürlich ohne ein Wort über die «alternative Schmerztherapie» zu verlieren. Zugleich waren wir heilfroh, dass der Mann selbständig laufen konnte. Als er sich dann auf die Trage gelegt hatte, wuchteten wir sie zu viert hoch und schoben den Patienten in den Rettungswagen. Die Ärztin stieg zu ihm, der RTW fuhr los und wir mit dem Notarzt-Einsatzwagen hinterher.
    «Was war das denn?», fragte Steffen unterwegs. «Der hat doch gar keine Drogen bekommen, wieso läuft der auf einmal?»
    «Schon mal was vom Placebo-Effekt gehört? Durch ihn war das eine echte Win-win-Situation», erklärte ich. «Wir mussten den Patienten nicht schleppen, für ihn war das garantiert angenehmer, als mit all den damit verbundenen Erschütterungen getragen zu werden, seine Wohnzimmeraußenwand blieb ganz, im Krankenhaus wird die Diagnostik nicht durch die Wirkung von Medikamenten verfälscht und bei der weiteren Schmerzbehandlung braucht man keine Rücksicht auf vorher gegebene Mittel zu nehmen. Ist doch klasse für alle!»
    Steffen grinste. «Können wir das nicht immer so machen? Dann brauchen wir vielleicht kaum noch jemanden tragen. ‹Rücken› ist schließlich auch bei uns keine anerkannte Berufskrankheit.»
    In der Tat wurde später beim Patienten «nur» eine muskuläre Blockade festgestellt, die durch sogenannte Relaxantien (Mittel zur Muskelentspannung) behoben werden konnte. Also, alles richtig gemacht, Frau Doktor!
    Nicht falsch verstehen: Für gewöhnlich werden tatsächlich Medikamente und nicht nur Wasser gespritzt, wenn der Arzt das behauptet. Aber in diesem Fall hatte die Notärztin nach eingehender Untersuchung den richtigen Riecher: Der Patient war einfach nur ziemlich wehleidig, und mit etwas gutem Willen in Kombination mit drei alternativen Heilmethoden (Kanülen-Akupunktur, gutes Zureden und Placebo-Effekt) ließ sich die ganze Sache erheblich besser meistern.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 14 Der ganz private Winterdienst
    Wenn man an einem Notfallort ist, hat man oft alle Hände voll zu tun. Das gilt besonders beim Tragen eines Patienten zum Rettungswagen. Denn wenn man kurz nachrechnet: sechs Griffe am Tragetuch, ein Koffer, ein Beatmungsrucksack, ein Defibrillator, geteilt durch die vier Hände der Rettungswagenbesatzung, da geht das Verhältnis von 1 : 1 nicht richtig auf. Deshalb ist man froh um jeden Anwesenden, der sich bereit erklärt, uns eine Infusion abzunehmen, den Koffer hinterherzutragen oder die Handgriffe am Fußende des Tragetuchs hochzuhalten.
    Doch oft glauben die Angehörigen des Patienten, das Allround-sorglos-Paket gebucht zu haben. Statt uns, da wir oft nur zu zweit sind, zu unterstützen, damit zum Beispiel der Vater schnell und möglichst komfortabel in den Rettungsbomber kommt, stehen sie einfach nur herum. Der jüngere Bruder, ein gestandener Maurer, hat auf einmal «Rücken», der Sohn kann keine Treppen steigen. Und manchmal sind die Angehörigen auch noch erbost darüber, dass wir sie überhaupt um Hilfe bitten: «Was? Da soll ich mithelfen? Aber
Sie
sind doch der Rettungsdienst!»
    Aber auch eine gut gemeinte, aber nicht organisierte Unterstützung kann nach hinten losgehen. Das mussten Steffen und ich einmal von dem älteren Ehemann einer Patientin erfahren. Denn «gut gemeint» ist häufig das Gegenteil von «gut gemacht»:
    Der Einsatz war im Winter, in einer Siedlung aus Reihenhäusern, mit niedlichen Vorgärten, die unter der frisch gefallenen Schneedecke bestimmt akkurat gepflegt waren. Es war schon dunkel, und auf den Straßen war es schweineglatt. An unserer Einsatzstelle, an der wir eine Frau mit «Kreislauf» abgeholt hatten, lag zentimeterhoch der Neuschnee. Der Rettungswagen stand am Ende der leicht ansteigenden Sackgasse, und die nette, etwa siebzigjährige Patientin in ihrem ungefähr gleich alten Pelzmantel war schon tapfer Richtung Auto gewackelt. Trotz ihres schwankenden Blutdrucks ging es ihr verhältnismäßig gut. Frierend und mit eingezogenem Kopf trug ich ihr eine Reisetasche mit ihrem Nachtzeug und den Hygieneutensilien für das Krankenhaus hinterher. Ihr Mann lief neben mir und sorgte sich: «Wo fahren Sie sie denn jetzt hin? Was braucht meine Frau noch alles? Meinen Sie, sie muss dort stationär

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