112 - Der tägliche Wahnsinn
der Sonne» hatte, sprich: den trocknen Fahrersitz in der beheizten Kabine, und das Knöpfchen für unsere widerspenstige Anfahrhilfe eifrig drückte, wühlte ich an der verdammten Schleuderkettenaufhängung herum.
Der Ehemann der Patientin hüpfte in der Zwischenzeit mit dem Eimerchen wie ein Flummiball um das Dienstgefährt herum. Auf der rechten Seite hatte er wohl schon genug gestreut, denn jetzt schien er sich der linken Seite zuwenden zu wollen, beginnend mit dem Hinterrad. Also genau da, wo ich noch arbeitete. Hochkonzentriert und nichtsahnend. Und so übersah «unser Sandmännchen», dass mein Kopf sich noch zwischen ihm und dem Hinterrad befand, als er das, was auf seiner Schaufel lag, in meine Richtung schleuderte. Gerade hatte ich unter Verdrehung sämtlicher Gliedmaßen eine Lage gefunden, aus der heraus ich an den klemmenden Hebelarm der Schleuderketten gelangte, um daran zu ziehen: «So, jetzt noch mal ver…» Wusch! «Sprotz-spuck-hust!»
Der übereifrige Winterdienstler hatte mir mit viel Schwung eine volle Portion grobkörnigen nassen Sand ins Gesicht geschleudert, bis weit in den Mund hinein. Was ich gern gesagt oder besser gebrüllt hätte, nachdem ich wieder Luft bekam und auch etwas sehen konnte, schluckte ich wegen meiner dienstlichen Außenwirkung lieber hinunter. Also, nach dem gefühlten Pfund Sand. Hatte ich den Mann nicht eben noch mehrfach ermahnt, den privaten Streudienst einzustellen? Aber mein auf den Erstickungsanfall folgender strafender Blick hat zum Glück gereicht, um den Hektiker in seinem blinden Aktionismus augenblicklich zur Salzsäule erstarren und ein verlegenes, halblautes «O-Oh … Entschuldigung …» stammeln zu lassen.
«Jetzt ist aber gut mit dem Sand, ja?», wies ich ihn zurecht, nachdem ich aus den Tiefen hervorgekrochen kam und mich in voller Länge vor ihm streckte. «Stellen Sie sich dort auf den Bürgersteig und laufen Sie bitte nicht mehr ums Auto herum. Ich möchte nicht, dass Sie zu Schaden kommen, sollte der Rettungswagen noch einmal ausbrechen.» Mit eingezogenem Kopf tat der Angesprochene, was ich verlangte. Steffen platzte fast vor unterdrücktem Lachen, wagte aber wegen meiner sichtlich schlechten Laune nicht, laut loszuprusten.
Nachdem ich dann noch einmal unter dem Pflasterlaster verschwand und an der klemmenden Einrichtung zog, während Steffen kichernd auf das Knöpfchen drückte, klappten die Schleuderketten endlich herunter. Und das Wunder geschah: Unter Zuhilfenahme der Ketten setzte sich der Rettungswagen mit dem nächsten Fahrversuch in Schlangenlinien in Bewegung.
«Gott sei Dank», brummelte ich vor mich hin, während der Kollege das Dienstauto erst stoppte, als er oben auf dem Berg angekommen war. Notdürftig klopfte ich mir den Schneematsch von der Schulter und wischte mir Sand aus dem Gesicht. «So», sagte ich nun zu dem immer noch betreten dreinblickenden Herrn am Straßenrand. «Und wenn Sie später in Ihrem Auto zum Krankenhaus fahren, können Sie an der Pforte erfragen, wo Sie Ihre Frau finden. Ich denke, sie wird dann noch in der Notaufnahme sein. Und fahren Sie vorsichtig!»
«Ja, danke. Und Entschuldigung, ich wollte nur helfen …»
Ich winkte ab: «Geht schon klar. Sand ist gut für die Verdauung.»
Unter einigen Mühen stapfte ich die Straße hinauf zum RTW und stieg ein. Im beheizten Innenraum saß die Patientin und schaute mich irritiert an. Mein Gesicht war immer noch voll Sand, der an der feuchtgeschwitzten Haut kleben geblieben war, die Haare trieften vor Nässe, der braune Schneematsch durchweichte langsam meine angeblich wasserdichte Einsatzjacke und die Hände sahen aus, als hätte ich gerade einen Ölwechsel gemacht. «Alles in Ordnung, wir können jetzt», sagte ich, als ich ihr fragendes Gesicht sah. Steffen grinste immer noch, wie ich durchs Fenster hindurch beobachten konnte. Dann fuhr er los.
Im Krankenhaus schickte ich ihn alleine los, um dem diensthabenden Arzt die «Patientin mit Kreislauf» vorzustellen. Der Grund war nicht von der Hand zu weisen: «Ich muss einen Abstecher zum Waschraum in der Unterkunft machen. Da ist eine Grundreinigung meines Äußeren dringend angesagt.»
«Alles klar. Brauchst du später noch einen Snack oder bist du jetzt satt?», frotzelte er.
«Halt bloß den Rand. Du hast im Warmen gesessen, während ich im Schnee lag.»
An diesem Abend hätte ich mich lieber an Pizza satt gegessen. Oder an meinem indonesischen Instant-Nudel-Chemiebaukasten aus dem Asialaden. Jedenfalls
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