112 - Der tägliche Wahnsinn
weiteren Behandlung einem Orthopäden vorgestellt werden, das sagte sie ihm auch. Er konnte mit den Schmerzen nicht einfach auf dem Boden liegen bleiben. Unser Problem war jedoch: Wie sollten wir ihn aus der Wohnung bekommen? Die Wohnzimmertür war recht schmal und zusätzlich durch einen Schrank verengt, sodass wir uns verwundert fragten, wie der voluminöse Mann durch den verengten Türrahmen in sein Wohnklo hineingelangt war! Den Patienten in einem Tragetuch durch diese Engstelle hinauszutragen, war undenkbar, nicht einmal mit sechs Mann. Und wie sollten wir ihn dann überhaupt erst auf eine Trage hieven?
«Wie geht es denn jetzt weiter?», fragte Steffen.
«Na, das Fenster müsste schon raus. Und der Rahmen ebenfalls», meinte ich. «Da werden wir ein ganz schönes Fass aufmachen müssen.»
Der Kollege vom RTW zuckte mit den Schultern: «Und Tragehilfe brauchen wir dann auch. Wir schaffen das nicht allein. ‹Großes Besteck› also.»
Ich stimmte ihm zu: «Ja, wenn der Mann nicht irgendwie alleine laufen kann, brauchen wir ein Löschfahrzeug zur Verstärkung. Dann den Rüstwagen mit dem Abbruchhammer für den Fensterrahmen. Und eine Drehleiter, um die zwei Meter vom Fenster bis zum Boden zu überbrücken. Den Mann kann draußen keiner über Kopf aus dem Fenster entgegennehmen.» Nach und nach versuchte ich den logistischen Aufwand zu überblicken.
Die Ärztin versuchte unterdessen eine Nadel in eine Vene des am Boden Liegenden zu stechen, um ihm Schmerzmittel zu spritzen. Nun weiß jeder, der es einmal versucht hat, wie schwierig es bei adipösen (fettleibigen) Patienten sein kann, eine Kanüle für eine Infusion zu legen, da die Adern tief im Gewebe verschwinden. So stocherte auch unsere Ärztin verzweifelt mehrmals drauflos, bis sie die Kanüle in eine Armvene bekam.
«Hmm, ich bin mir nicht ganz sicher, ob die nicht ‹para› liegt. Gibst du mir mal etwas NaCl zum Anspritzen?», forderte sie mich auf. Für Laien: Sie wollte mit etwas Kochsalzlösung (NaCl) testen, ob die Kanüle wirklich in der Vene und nicht darüber («para») liegt. Denn befindet sich das Ende des kleinen Plastikschlauchs nicht in der Ader, gibt es beim Einspritzen der Lösung eine kleine Beule über der Stelle, weil die Flüssigkeit nicht abfließen kann. Ich zog ihr also eine Spritze mit der verlangten Lösung auf und gab sie ihr mit der kurzen Ansage: «NaCl. Zehn Milliliter.»
Danach wäre der Zeitpunkt gekommen, Schmerzmittel vorzubereiten. Diese können bei dem einen oder anderen Patienten unerwartet heftig wirken, sodass plötzlich nicht nur der Schmerz, sondern auch die Atmung weg ist. Die Ärztin befürchtete, dieser Patient vor ihr könnte genau einer von denen sein, die die Augen ganz nach hinten drehen und beatmungspflichtig werden, wenn sie möglicherweise etwas zu viel von diesem Medikament erhalten. Und das wollte in dieser Enge nun wirklich keiner, zumal die geringe Chance, dass der Patient doch noch auf eigenen Füßen seine Bude verließ, dann praktisch gleich null war.
Also versuchte sie einen Trick. Beim Spritzen der Lösung (wohlgemerkt: nur Wasser mit ein paar Elektrolyten), die glücklicherweise ohne Beulenbildung im Arm verschwand, sagte sie zum Patienten: «Sooo, ich habe Ihnen jetzt ein Schmerzmittel gegeben, das müsste gleich besser werden. Wird etwa zwei Minuten dauern. Wenn es nicht genug ist, können wir noch etwas nachspritzen.» Wir Rettungsassistenten schauten uns zwar etwas irritiert an, aber alle Anwesenden schalteten schnell genug, um nichts zu sagen. Irgendetwas wird sich die Akademikerin dabei bestimmt gedacht haben!
So standen wir um den XXL -Menschen herum, während die Notärztin ihm noch von den Vorzügen des soeben gespritzten «Medikaments» vorschwärmte: «Das Zeug ist recht neu. Hat kaum Nebenwirkungen, auch der sonst übliche Schwindel bleibt meist aus. Haben Sie schon mal Probleme mit Schmerzmitteln gehabt? Zum Beispiel von Tramal wird einigen Leuten regelrecht schlecht. Bei diesem passiert das nicht …»
Und das Wunder geschah: Nach etwa zwei Minuten Medikamenten-Plauderei, etwas gutem Zureden und der Behauptung der Notärztin, dass das «Mittel» jetzt wirken müsste, fragte sie: «Wenn wir Ihnen helfen, können Sie sich dann aufsetzen? Geht das?»
Die Antwort des Beleibten war erstaunlich: «Ja, ja … tut noch weh, aber nicht mehr so schlimm wie vorher. Wenn ich vorsichtig bin, klappt es vielleicht …»
Während wir ihn so weit unterstützten, wie es uns möglich war,
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