1124 - Aus dem Reich der Toten
keinen Krieg.
Lauder lag in tiefer Ruhe. Die Menschen hier gingen früh zu Bett. Es gab keine Discos, die bis zum frühen Morgen lärmten, hier saß man höchstens in den Pubs zusammen, und noch vor Mitternacht wurden die Bürgersteige hochgeklappt.
Ich hatte Nora Thorn nicht mehr erreicht. Sie wartete sicherlich schon an der Ruine. Auch sie war für mich nach wie vor von einem Geheimnis umgeben. Ich wollte sie nicht direkt als Lügnerin bezeichnen, aber sie hatte mir bisher nur einen kleinen Teil der Wahrheit gesagt, und ich wußte auch nicht, wer hinter ihr stand und wer sie demnach geschickt hatte.
Nur wenige Laternen verteilten ihr Licht. Ich fuhr an einem geparkten Wagen vorbei, in dem ein Paar die Umwelt vergessen hatte und mit sich selbst beschäftigt war. Es störte sich auch nicht daran, daß das Licht der Scheinwerfer durch das Fahrzeug strich, so daß die halbnackten Körper sich scharf hinter den Scheiben abzeichneten.
Der Weg zur Ruine hin war kein Privatweg. Trotzdem wurde er so gut wie nicht befahren, denn niemand konnte auf der kleinen Höhe noch besucht werden.
Im Licht der Scheinwerfer sah ich die alte Linde, deren Stamm einen hellen Anstrich erhielt. Danach wanderte das Licht weiter, und ich sah Nora Thorn.
Sie hatte die Maschine aufgebockt und winkte mir zu. Ich fuhr auf die gleiche Höhe, stellte den Motor aus und verließ den Rover.
Ich sprach sie nicht an, sondern warf zuerst einen Blick über die Ruine. Sie sah sehr dunkel aus. Die Fensterlöcher wirkten wie leere Totenaugen, und hätte der Mond sein Licht über die Reste gestreut, dann wäre sie wirklich zu einer gespenstischen kleinen Welt hier oben auf dem Hügel geworden.
Ich entdeckte keine andere Bewegung. Zwischen den Trümmern war es still. Nicht einmal der leichte Wind verursachte Geräusche.
Keine anderen Menschen, keine Geister, keine Dämonen. Nora und ich waren allein, und nur das Blätterdach der Linde bewegte sich leicht hin und her.
»Schön, daß du hier bist«, sagte Nora.
Ich winkte ab. »Was hätte ich tun sollen? Ich weiß, daß die Sache noch nicht ausgestanden ist.«
»Das ist sie wirklich nicht.«
»Kommen jetzt die Minuten der Wahrheit?« fragte ich.
»Wahrscheinlich.«
»Auch über dich?«
»Mich kennst du doch«, antwortete sie lächelnd.
»Nein, nicht so, Nora. Wir beide wissen, daß unser Treffen nicht zufällig war. Da steckt mehr dahinter, und wenn ich dich anschaue, kommst du mir noch immer fremd vor. Ich habe das Gefühl, daß du mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Du verschweigst etwas. Du bist nicht diejenige, als die du dich ausgibst. Ich habe dich beobachten können. Ich weiß, wie abgebrüht du reagiert hast. Dein Sprung vom Wagen auf das Motorrad war vom Feinsten. So etwas macht dir so leicht keiner nach. Das muß man schon trainieren.«
»Ja, das ist möglich.«
»Und dann das Treffen hier: Ausgerechnet an diesem Ort. Auch das muß etwas zu bedeuten haben. Wir hätten auch auf der Straße bleiben können…«
»Nein, das wäre nicht gut gewesen.«
»Hat dieser Ort etwas damit zu tun, daß der Killer das Gesicht meines Vaters besessen hat?«
Sie blickte zum dunklen Himmel, bevor sie mir eine Antwort gab. »Das kann man so sagen.«
»Du weißt über Horace F. Sinclair Bescheid?«
Nora überlegte. »Das ist alles relativ, John. Nicht genau, möchte ich sagen. Aber ich gebe zu, daß ich den Kontakt zu dir suchte.«
»Schön, das war mir bekannt. Du hast es nicht freiwillig getan.«
Sie lächelte.
»Bitte, ich möchte wissen, was gespielt wird. Ich habe jemanden den Kopf abgesägt, der das Gesicht meines Vaters trug. Es war nicht der echte, das weiß ich, sonst wäre ich auch zu stark erschüttert gewesen, aber verdammt noch mal, alles im Leben hat einen Grund. Warum hatte dieser Killer das Gesicht meines Vaters? Ich weiß, daß er Menschen tötete. Es gelang ihm sogar, sich in meinen Schlaf einzuschleichen und mir die Alpträume zu bringen. Aber dann löste er sich plötzlich in Rauch und Licht auf. Dafür finde ich keine Erklärung.«
»Ich verstehe das«, gab sie mit leiser Stimme zu. »Doch eine genaue Antwort kann ich dir auch nicht geben. Das ist nun mal so.«
»Warum stehen wir dann hier?«
»Weil wir jemand treffen werden.«
»Schön, den du kennst?«
Sie nickte.
Ich hatte Mühe, mich nicht offen aufzuregen. »Und diese geheimnisvolle Person wird mir einiges erklären können?«
»Das nehme ich an.«
»Dann soll Sie sich endlich zeigen und…«
»Bitte, John, bitte.
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