1124 - Aus dem Reich der Toten
Du brauchst dich wirklich nicht so aufzuregen. Ich bin bereits in deiner Nähe.«
Die Stimme - Himmel, die Stimme. Ich kannte sie. Die Frau stand hinter mir, wahrscheinlich im Schatten der Linde. Obwohl ich die Stimme kannte, glaubte ich, in einem anderen Film zu sein. Das konnte doch nicht wahr sein, ich hatte mich bestimmt geirrt, und ich zögerte noch, mich umzudrehen, als ich die Schritte hinter meinem Rücken hörte.
Sehr langsam wandte ich mich um.
Dann sah ich sie.
Ja, ich hatte mich nicht geirrt, obwohl das Treffen mit dieser Frau schon etwas länger zurücklag.
Vor mir stand - auch bei diesen Lichtverhältnissen zu erkennen - Janine Helder, eine Jugendfreundin meines verstorbenen Vaters…
***
Es war die Überraschung, die mich starr werden ließ. Im ersten Augenblick konnte ich nicht reden, und durch meinen Kopf schossen die Fetzen der Erinnerung.
Janine Helder, eine Frau, die ich schätzen gelernt hatte. Die nach dem Tod meiner Eltern Kontakt zu mir aufgenommen hatte, weil sie inzwischen gewußt hatte, wer ich war.
Ich hatte sie besucht und erfahren, daß sie und mein Vater als junge Menschen fast ein Jahr zusammengewesen waren. Es war nicht zu einer Hochzeit gekommen, weil Janine sich damals um das Geschäft ihrer Eltern hatte kümmern müssen. Da war es dann vorbei mit dem Studium gewesen, und es hatte auch keinen Kontakt mehr zwischen den beiden gegeben. Außerdem hatte mein Vater damals seine Mary kennengelernt, die schließlich zu meiner Mutter geworden war.
Janine Helder hatte mich damals nicht nur einfach kennenlernen wollen. Sie wußte über meine Arbeit Bescheid und wollte, daß ich ihr bei einem Problem half. So hatte ich Doreen del Monte kennengelernt, eine sehr hübsche, dunkelhaarige Frau, die mit einem schrecklichen Geheimnis zu leben hatte.
Tagsüber war sie normal. Nachts aber verwandelte sie sich in einen Vampir. Sie hatte wahnsinnig darunter gelitten und hatte mich gebeten, ihrem Dasein ein Ende zu machen.
Das war auch geschehen, doch anders, als sie es sich vielleicht vorgestellt hatte. Janine Helder hatte mir dabei zur Seite gestanden, und ich hatte sie als eine Frau erlebt, die allen Dingen gegenüber aufgeschlossen war und auch nicht negierte oder strikt ablehnte.
Sie war mir sympathisch gewesen, auch wenn sie mir damals nicht viel über meinen Vater hatte berichten können. Besonders nicht über sein Verhältnis zu der Lalibela-Sekte. Dieses Kapitel hatte ich auch als erledigt angesehen, weil es auch die Figur nicht mehr gab, die ich später im Keller des elterlichen Hauses gefunden hatte.
In diesem kurzen Augenblick wühlte die Erinnerung wieder in mir hoch. Ich hatte Mühe, die Beherrschung zu bewahren, und das feine Lächeln auf den Lippen der älteren Frau konnte mich auch nicht fröhlicher stimmen.
Sie trug ein Kleid und eine dünne Strickjacke. Ihr Gesicht sah ich nicht so deutlich, aber ich wußte, daß sie helle Augen und immer leicht gerötete Wangen hatte. Dazu graues Haar und eine noch sehr alterslos wirkende Haut.
»Willst du mich nicht begrüßen, John?« fragte sie und streckte mir die rechte Hand entgegen.
Ich mußte mich räuspern. »Natürlich, sorry, aber ich habe mit dir nicht gerechnet.«
»Das weiß ich doch.«
Ihr Händedruck war kräftig, während mir meiner lasch vorkam. Ich ärgerte mich auch darüber, daß meine Hand zitterte, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Janine Helder stand vor mir, und ich war davon überzeugt, daß sie Licht in das Dunkel des Falls bringen konnte.
Sie beließ es nicht beim Händedruck, sondern zog mich zu sich heran und umarmte mich. »Ich bin so froh, daß du es geschafft hast, John.« flüsterte sie.
»Ja, aber… ich bin…«
»Es wird sich hoffentlich vieles klären.«
»Mal sehen.«
Janine Helder ließ mich los, drehte sich und wandte sich meiner Begleiterin zu. »Dir geht es gut, Nora?«
»Ja, ich kann nicht klagen.«
»Das freut mich.« Sie ging auf Nora zu und umarmte sie ebenfalls. »Hast du gut auf unseren Schützling aufgepaßt?«
»Ich habe mir Mühe gegeben.«
»Das ist fein.«
Himmel, ich kam mir vor wie jemand, der nicht dazugehört. Die beiden Frauen wußten Bescheid, ich nicht, und das ärgerte mich. Ich wußte auch nicht mehr, ob ich Janine Helder noch das Vertrauen entgegenbringen konnte wie bei unserer ersten Begegnung. Da schien sie mir nicht alles über das Verhältnis zu meinem Vater gesagt zu haben.
Janine wandte sich wieder an mich. »Es ist schön, daß wir uns hier
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