1128 - Erbe des Fluchs
Er konnte die Distanz vergrößern. Ich sah, wie er auf den Turm zulief.
Und plötzlich war er weg!
Ich lief noch ein paar Schritte, sah ein, daß es keinen Sinn hatte, und blieb stehen.
Ja, der Turm warf schon seinen Schatten gegen mich, so nahe war ich an ihn herangekommen. Am Himmel leuchtete der Vollmond, als wollte er dem Bösen noch einmal Kraft verleihen.
Es war still geworden. Selbst hinter mir, aus der Nähe des Throns hörte ich nichts. Die Bräute würden für immer schweigen.
Wo war er? Ich ging um eine schiefe Säule herum. Ich stellte mir noch einmal vor, wo ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Dabei geriet die quer stehende Mauer in mein Gesichtsfeld. Dahinter war Montfour verschwunden.
Es wäre dumm gewesen, hin und her zu laufen. Ich würde ihn hören, wenn er seine Flucht fortsetzte. Noch konnte er sich nicht lautlos bewegen.
Tatsächlich hörte ich etwas!
Ein so typisches Geräusch, das mir leider nicht neu war. Ich hatte es bei Dracula II schon erlebt, wenn er floh. Meistens hatte er sich dann bereits in eine Fledermaus verwandelt.
Ich kletterte auf den Mauerrest. Die Krone war nicht glatt. Hier stachen die Steine unterschiedlich hoch aus dem Verbund.
Automatisch fiel mein Blick in die Tiefe.
Da war er.
Jacques Montfour befand sich noch mitten in der Metamorphose.
Er war weder Mensch noch Fledermaus. Bei seiner Verwandlung hatte er so etwas wie ein Zwischenstadium erreicht. Der Kopf mit dem bleichen Gesicht eines Menschen, aber der Körper glich bereits dem einer Fledermaus, wobei die Arme zu Schwingen geworden waren.
Ich ließ mich fallen und sprang zugleich nach vorn.
In diesem Augenblick drehte er sich herum, und dann prallte ich mit den Füßen zuerst auf ihn…
***
Ich hätte gern sein Gesicht getroffen. Aber ich war nicht zielgenau gesprungen und hatte den bleichen Fleck verfehlt. Mit den Schuhen landete ich auf einem weichen Widerstand, der sich zuckend unter mir bewegt. Es war schwer, das Gleichgewicht zu finden. Ich fiel leider zurück und stieß gegen die Mauer.
Er kam hoch!
Mensch und Fledermaus zugleich. Ein riesiger dunkler Rochen, der vor mir flüchten wollte. Er hätte es auch geschafft, aber seine Schwingen bewegten sich zu langsam.
Auch für das Kreuz.
Ich sprang vor und hängte mich an die rechte Schwinge. Mein Gewicht reichte aus, um ihn nach unten zu ziehen. Ich hörte ihn dabei schrill schreien, wobei nicht feststand, ob es die Stimme einer Fledermaus oder eines Menschen war.
Der Vampir gab nicht auf. Grotesk wirkte auf mich, wie er die linke Schwinge bewegte und so vom Boden abhob. Er bildete einen schrägen Schatten über meinem Kopf, und er besaß noch immer das menschliche Gesicht.
Angst peitschte ihn.
Das war kein Gesicht mehr. Das war die Todesfurcht vor der Vernichtung, die nicht lange auf sich warten ließ.
Er »fraß« das Kreuz!
So mußte es für einen Betrachter aussehen, als ich es in sein weit geöffnetes Maul hineinrammte. Es paßte fast, es klemmte fest, und es fiel nicht mehr nach unten.
Der Kopf explodierte in einem hellen Strahlen. Er wurde regelrecht atomisiert. Ich sah das Licht, und ich sah noch die wenigen Partikel, die in verschiedene Richtungen wie Rußflocken davonflogen. Vor, neben und über mir flatterten Schatten, doch es waren keine normalen Schwingen mehr. Die hatten sich bereits durch die Macht meines Erbes zu Asche aufgelöst, die zu Boden rieselte.
So hatte Hector de Valois letztendlich doch noch gewonnen und das Erbe des Fluchs gelöscht…
***
Neben dem Thron standen die beiden Menschen. Godwin de Salier hielt Suzanne Petit noch immer in den Armen. Es war gut so, und es tat ihr auch gut.
»Ich sah Licht«, sagte er zu mir.
Lächelnd schaute ich auf das Kreuz in meiner rechten Hand. »Ja, zuerst das Licht…«
»Und dann?«
»Die Asche, Godwin.«
Er schnaufte durch die Nase. »Wunderbar, John, sehr gut. Ich habe es mir gewünscht.«
»Du wirst lachen, ich auch.«
»Wenn du willst, kannst du dir die Reste der ungewöhnlichen Bräute anschauen.«
»Sind alle weg?«
»Ich kam nicht umhin. Der Wind hat das meiste von ihnen weggetrieben.«
»Was ist mit Suzanne Petit?« fragte ich.
»Ja«, sagte der Templer leise. »Sie wird wohl zu einem Problem werden. Ich denke, daß man sie jetzt nicht allein lassen kann. Oder was meinst du?«
Bevor ich antwortete, lächelte ich.
»Da hast du wohl recht. Sie hat zu viel hinter sich und darf nicht allein bleiben. Hast du schon eine Idee, was mit ihr
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