1137 - Madame Tarock
nicht nehmen. Aber bei Koss war es etwas anderes gewesen. Dank ihrer großen Sensibilität hatte sie gespürt, welcher Mensch da vor ihr saß. Dass er ein Verbrecher war. Ein widerliches Monstrum, das über Leichen ging. Und so hatte sie ihm die Wahrheit ins Gesicht gesagt.
»Du wirst sterben, Victor!«
Zuerst hatte er nicht reagiert. Er war nur kalkweiß geworden. Dann aber war er aufgesprungen, hatte geschrieen, und sein Gesicht war dabei rot angelaufen. Er hatte es nicht akzeptieren wollen und die restlichen noch auf dem Tisch liegenden Karten durcheinandergeworfen. Er hatte verlangt, sie noch einmal zu legen, und das hatte Madame Tarock auch getan.
Es hatte sich nichts geändert.
Wieder hatte sie ihn auf den Gehängten schauen lassen, und er war abermals leichenblass geworden.
Danach hatte er dann seinen Revolver gezogen, sie angestarrt, und er war auch bereit gewesen, ihr eine Kugel durch den Kopf zu schießen, doch ihre Augen hatten ihn davon abgehalten. Es war ein Blick gewesen, dem er nichts hatte entgegensetzen können. Sie hatte ihn nur angestarrt, und er hatte plötzlich den Revolver sinken lassen.
»Geh jetzt!« hatte sie ihm gesagt.
Er war gegangen. Doch vor seinem Verschwinden hatte er noch eine Warnung ausgestoßen. »Eines verspreche ich dir, Zingara. Bevor ich sterbe, wirst du umkommen. Darauf kannst du dich verlassen!«
Es war eine Drohung gewesen, und Madame Tarock hatte sie auch nicht missachtet. Victor Koss hatte sich beleidigt und entehrt gefühlt. Einer wie er würde das auf keinen Fall verkraften, und er war mit Riesenschritten weggegangen.
Leeres Geschwätz war das nicht gewesen, dazu kannte Zingara Koss gut genug, und Zingara war von diesem Zeitpunkt an auf der Hut gewesen.
Erst eine Woche später war es dann zu dieser Konfrontation mit dem Killer gekommen, als sie von einem Besuch auf dem Friedhof zurückgekehrt war. Dort lag eine Freundin, die bei einem Unfall ums Leben gekommen war.
Der Killer war tot, sie lebte noch, und es lebte auch noch ein Zeuge.
Sie hatte dem Mann das Leben gerettet und anschließend mit dem Gedanken gespielt, es ihm wieder zu nehmen. Das hatte sie dann nicht getan. Es war ihr einfach nicht möglich gewesen, denn der Mann war nicht hinter ihr, sondern hinter dem Killer her gewesen. Sie hatte ihn nur auf ihre Art und Weise gewarnt und ihm beim Weggehen gezeigt, wozu sie in der Lage war.
Er würde mit diesem Rätsel leben müssen. Andere würden ihn für verrückt halten, wenn er von diesem Ereignis berichtete. Das wäre zumindest normal gewesen.
Aber Madame Tarock hatte ihre Zweifel. Sie waren erst später in ihr hochgekommen, und da war ihr klargeworden, daß sie diesen Mann doch nicht in die Reihe der normalen Zeugen hineinsetzen konnte. Er war zwar erstaunt gewesen, das hatte sie gespürt, aber nicht entsetzt oder nicht so entgeistert, wie es normal gewesen wäre. Deshalb konnte sie sich jetzt vorstellen, dass dieser Mann es nicht allein auf diesem einen Vorfall beruhen ließ und er versuchen würde, gewisse Dinge aufzuklären. Das konnte nur heißen, dass er ihre Spur aufnahm.
Am nächsten Tag war nichts passiert. Auch nicht in der kaltfeuchten Nacht, die Zingara auf dem Boot verbracht hatte. Eine Heizung gab es dort nicht, auch auf einen Ofen hatte sie verzichtet. Diese Boote waren mehr etwas für den Sommer. Im Winter standen die meisten leer. Dass in diesem Fall mehrere belegt waren, war die Ausnahme.
Sie hatte in der Nacht sogar gut geschlafen und war auch nicht von schlimmen Träumen belästigt worden. Am Morgen hatte sie sich mit kaltem Wasser gewaschen, sogar ihren gesamten Körper. Sie war dazu in den Kanal gegangen, und die beiden jungen Leute auf dem Nachbarboot hatten schon beim Zuschauen gefroren.
Das machte ihr nichts aus. Sie wollte beweisen, wozu sie fähig war. Zingara überschritt immer wieder Grenzen. Sie ließ sich einfach nicht in eine Form pressen.
Nach der Morgenwäsche hatte sie sich ein karges Frühstück zubereitet. Sie trank Milch und aß ein Brot mit Honig. Danach fühlte sie sich für den Tag gerüstet.
Jetzt stand sie an Deck.
Die Sonne war nicht zu sehen, aber der Tag hatte die Nacht besiegt. Es war kein großer Sieg gewesen, denn weiterhin lag der Himmel wie eine graue Masse über dem Land. Wolkenberge hatten sich ineinander geschoben und gaben so gut wie keine Lücke frei. Es wehte ein Nordwestwind, aber es war nicht schneekalt. Die Flocken hatten erst in der letzten Woche einen weißen Teppich
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