1139 - Das Herz der Jungfrau
bewegte nur seinen Oberkörper, der sich plötzlich aufgerichtet hatte. Er wollte den strafenden Engel anschauen und schrie gellend auf, als aus seinem Körper die kleinen Flammen schossen und wie Irrlichter über die Gestalt hinwegtanzten. Sie waren schnell und flatterhaft, und sie vernichteten den Menschen.
Jerome schrie nicht einmal, als er in seiner knieenden Haltung zu Asche verbrannte. Das Licht des Engels hatte mit seiner ungemein starken Kraft dafür Sorge getragen. Da gab es nichts mehr, was ihn noch zusammengehalten hätte. Vor den Augen des entsetzten Schotten zerfiel er zu Asche.
Es blieb nichts anderes von ihm übrig. Kleidung und Mensch waren verbrannt. Es gab keine Knochen mehr, kein Stück Haut und auch keine Haare.
Dean McMurdock hatte alles gesehen. Er wollte es trotzdem nicht glauben, und auf sein Gesicht hatte sich ein ungläubiger und zugleich auch entsetzter Ausdruck gelegt. Er wusste nicht mehr, ob er träumte oder das Grauen tatsächlich erlebt hatte.
In diesen Sekunden fragte sich der Schotte, ob der Engel tatsächlich ein Bote Gottes war. Wenn ja, dann hätte Gott ja diese letzte Grausamkeit unterstützt. Oder war er tatsächlich nur jemand, der sich von den anderen Engeln abgelöst hatte?
McMurdock wusste nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Er traute sich auch nicht, wegzugehen, aus Angst, dass er etwas falsch machen könnte. Er stand wie zu Eis erstarrt auf dem Fleck und schaute hoch auf die lichtdurchflutete Gestalt, die die Haltung eines Königs angenommen hatte.
Die klaren Augen schauten nieder. Er glaubte, in ihnen eine Botschaft zu entdecken, die gut für ihn war. Der Blick hatte seinen strafenden Ausdruck verloren. Er war weicher und auch milder geworden, was McMurdock wieder Hoffnung gab.
Plötzlich hörte er die Stimme des Engels. Nein, es war keine richtige Stimme. McMurdock hatte Mühe, aus den für ihn zirpend klingenden Lauten Worte zu verstehen.
»Er wird dich nicht mehr stören«, sagte ihm der Erzengel. »Denn du bist auserwählt worden. Johanna wurde dem Scheiterhaufen übergeben und grausam getötet, aber ich sage dir, dass man noch viel von ihr hören wird. Die Menschen werden schon bald merken, was sie getan haben, und man wird sie dann mit anderen Augen sehen und sogar heilig sprechen. Noch aber ist es nicht soweit. Noch sind die Menschen unsicher, doch einige wichtige von ihnen wissen genau, was geschehen ist, auch wenn sie es nicht offen zugeben wollen. Ich aber sage dir, dass Johanna eine besondere Person gewesen ist. Ihr Körper konnte verbrannt werden, aber nicht alles wurde ein Raub der Flammen. Etwas ist von ihr zurückgeblieben. Die Soldaten und auch die Geistlichen haben es nicht gefunden. Es fehlt ihr Herz. Es verbrannte nicht, und ich habe dich ausgesucht, denn ich brauche einen Beschützer des Herzens. Du wirst das Herz holen und es vor der Welt beschützen. Es wird dir eine große Macht geben, denn es ist ein Teil von ihr. Ich habe sie beschützt, und sie wird auch weiterhin unter meinem Schutz stehen. Dich aber benötige ich auf Erden. Ich bin ein Bote, und ich habe dich jetzt zu meinem Boten gemacht. Deshalb wirst du hingehen und das Herz der Johanna holen. Du, ein Kämpfer, ein Tempelritter, ein Edler aus dem Norden, und einer, der der Inquisition entkommen ist.«
Dean McMurdock war nicht mehr in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Diese Botschaft hatte ihn einfach überwältigt. Ihm war schwindelig. Er wunderte sich darüber, dass er noch auf seinen Beinen stand und nicht längst in die Knie gesackt war. Er musste sich auf seinem Schwert abstützen, um auf den Beinen bleiben zu können.
Der Engel schaute noch immer auf ihn nieder. Es schien, als wollte er ihm die Worte noch einmal in den Kopf brennen, damit sie auch nicht vergessen wurden.
McMurdock musste einige Male schlucken, bevor er mit heiserer Stimme fragte: »Ich… ich … soll es wirklich sein?«
»Ja.«
»Und… und wie tue ich das? Ich weiß nicht, wo ich das Herz der Jungfrau finden kann.«
»Man wird es dir sagen und dir auch den Weg weisen.«
»Wer will es tun – wer?«
»Geh zu ihr in die Hütte.«
McMurdock war etwas enttäuscht, weil er mit einer stärkeren Hilfe von Seiten des Engels gerechnet hatte. Aber er traf keinerlei Anstalten, ihm weitere Tips zu geben. Statt dessen zog er sich zurück und hob beide Hände in Schulterhöhe an. Eine Geste des Abschieds, die der Schotte durchaus richtig verstand.
Trotzdem konnte er einfach nicht anders und musste der
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