1161 - Der Keim des Bösen
mit den silberblonden Haaren? Wie heißt sie? Los, raus mit der Sprache.«
Er gab mir keine Antwort. Dafür sah ich, wie sich die Haut an den Wangen bewegte. Sie wurde nach innen gezogen, und es sah aus, als wollte er etwas in seinem Mund sammeln.
Es war Speichel, und den spie er plötzlich aus. Durch die Bewegungen der Wangen war ich schon gewarnt worden, so dass ich dieser Ladung mit einer schnellen Drehung ausweichen konnte. Auch die anderen wurden nicht getroffen, und ich setzte meinen Weg fort.
Harper wusste, dass es keinen Sinn hatte. Er versuchte trotzdem alles. Mit einem heftigen Ruck kippte er sich und den Stuhl nach hinten. Am Boden landeten beide nicht, weil die Wand zu dicht hinter ihm war und sie beide abstützte.
Ich wollte zugreifen, um ihn festzuhalten. Es blieb beim Versuch, denn auf einmal sah ich das, was Jane Collins schon aufgefallen war. Aus dem weit offenen Mund drang der Atemstoß wie ein Fauchen. Zugleich sah ich die dunkle Fahne, die mir entgegen wehte…
***
Er hatte es nicht geschafft! Er hatte zwar geschossen, doch nicht die Personen erwischt, die längst hätten tot auf dem Boden liegen müssen. Das große Chaos war ausgebrochen, und Lukretia, die unten stand und nach oben schaute, wurde die Sicht genommen. Sie zog sich auch zurück, aber sie lief nicht weg. Sie wollte wissen, wie es weiterging, und sie war zudem die einzige Person, die in diesem gesamten Trubel die Nerven behielt.
Nach oben zu gehen traute sie sich nicht. Sie hätte auch gegen den Strom der Massen laufen müssen, die sich von oben nach unten wälzten, getrieben von der unsichtbaren Peitsche der Angst und Panik. Die Hölle konnten sie immer wieder in den Filmen erleben. Dass die Wirklichkeit noch schlimmer war, begriffen sie einfach nicht. Es war das nackte Grauen, das sie zu dieser Flucht verleitete.
Lukretia hatte sich so weit zurückgezogen, dass sie nicht weiter auffiel. Jetzt war es für sie wie Kino, denn die Wirklichkeit lief wie ein Film vor ihren Augen ab, an dem sie nicht teilnahm. Aber sie würde daran teilnehmen, das musste sie sogar. Es war gewissermaßen eine Verpflichtung. Anders ging es nicht. Das Spiel war angefangen und musste beendet werden. Das war sie schon allein der Macht schuldig, die hinter ihr stand.
Also wartete sie weiter. Das Bild vor ihren Augen verschwamm. Sie schob die Realität einfach zurück und erging sich in ihrer ureigensten Meditation.
Dass die ersten Polizisten erschienen waren, machte ihr auch nichts aus. Vor ihren Augen war das eine und das besondere Bild entstanden. Sie sah den großen Mann mit den beiden Begleiterinnen vor sich, und sie hatte plötzlich die uralte Feindschaft gespürt, als sie dem Mann und den Frauen zu nahe gekommen war.
Nichts konnte sie so leicht aus dem Konzept bringen, aber dieser Stoß war wie ein feindlicher Angriff gewesen. Die Attacke aus einer völlig anderen Welt, die schon seit Urzeiten in krassem Gegensatz zu der ihren stand.
Ein Feind! Ein Urfeind! Und er hatte leider etwas bemerkt. Ob sie ihm aufgefallen war, konnte sie nicht sagen, weil sie sich einfach zu schnell zurückgezogen hatte. Doch aufgeschoben war nicht aufgehoben. Sie würde herausfinden, wer diese drei Personen waren. Namen waren wichtig. Zumindest zwei von ihnen hatten überlebt. Was mit der Alten geschehen war, wusste sie nicht.
Als sie sich aus ihrem eigenen Gedankental hervorschraubte, hatten sich die Dinge in ihrer Umgebung verändert. Nur relativ wenige Menschen hielten sich noch in der großen Halle auf. Dafür wimmelte es von Polizisten, die auch schon die Pfosten und Bänder für die Absperrungen aufgebaut hatten.
Von ihrem Platz aus konnte Lukretia, wenn sie in die Höhe schaute, das Restaurant gut überblicken.
Die beiden Verhassten waren zu sehen. Die alte Frau nicht mehr. Wahrscheinlich war sie schon weggeschafft worden, wie auch eine andere Person über die Rolltreppe nach unten fuhr. Sie war nicht zu sehen, weil sie in einem der primitiven Särge lag, der von zwei Männern in grauen Kitteln getragen wurde.
Zumindest ein Mensch war gestorben. Das tat ihr gut. So hatte der Keim des Bösen Früchte getragen.
Aber Phil Harper war nicht tot. Er wurde ebenfalls unter starker Bewachung abgeführt. Allein konnte er sich nicht auf den Beinen halten. Mindestens vier Männer waren stets um ihn herum.
Lukretia zog sich so weit zurück, damit sie von Harper nicht zufällig gesehen wurde. Was weiter mit ihm passierte, interessierte sie nicht besonders, sie hatte
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