1178 - Lisas Totenruf
können.«
»Das ist nicht mehr nötig«, sagte ich lächelnd. »Sie wissen ja jetzt, wer vor Ihnen steht.«
»Ja, das weiß ich. Da bin ich auch froh, auch wenn ich Sie in Verdacht gehabt habe. Manchmal verliert man eben den Blick für die Realität. Nur sagen Sie mir bitte, weshalb Sie gekommen sind. Hat es sich bis zum Yard herumgesprochen, dass zwei Frauen einfach so verschwunden sind?«
»Nein, das ist für uns neu gewesen, Mr. Goldman. Wir sind wegen dieser geheimnisvollen blonden Frau gekommen. Auch sie wird vermisst, und deshalb suchen wir sie.«
»Eine ganz normale Sache?«
»Was sonst?«
»Ich weiß allerdings nicht, ob Sie die Blonde finden werden.«
»Das lassen Sie mal unser Problem sein.«
Wir sahen ihm an, dass er verlegen wurde. Er druckste herum. Erst auf unsere Aufforderung hin stellte er die Frage schließlich. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie begleite? In Ihrer Nähe fühle ich mich sicher.«
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Suko. Er sprach für mich gleich mit. »Außerdem kennen Sie sich hier aus.«
»Das will ich wohl meinen.«
»Es ist ein Friedhof mit Geschichte, nicht?«
»Ja, er ist alt. Wer hier begraben ist, der gehörte im Leben nicht zu den ärmsten Menschen. Er stammte aus Familien, die Macht und Einfluss besaßen. Die Gräber liegen zumeist an der anderen Seite, und der Name Grab stimmt auch nicht. Das sind in der Regel Gruften oder sogar schon kleine Totenhäuser. Da sind dann die Mitglieder der Familien begraben worden. Auch jetzt noch finden sie dort ihre letzte Ruhe. Der Teil direkt hinter dem Tor ist der normale, sage ich mal, obwohl es auch hier mehr Gruften als Gräber gibt. Noch immer wird nicht jeder hier begraben. Man muss sich schon eingekauft haben.«
»Was ist mit Ihrer Familie?«, fragte ich.
»Nichts. Meine Mutter hat den Friedhof nur betreten, um das Grab einer Freundin zu besuchen.« Er senkte die Stimme. »Jetzt glaube ich schon daran, dass sie nicht mehr lebt.«
»Wie lange ist sie denn verschwunden?«
In Goldmans Augen schimmerte es feucht, als er mich anblickte. »Seit knapp zwei Wochen.«
»Das ist lang. Sie wurde auch nirgendwo aufgegriffen?«
»Nein. Ich habe eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber sie hat nichts gebracht.«
»Okay, wir werden sehen.« Ich wollte das Thema wechseln und fragte: »Müssen wir über das Tor klettern?«
»Nein, ich habe mir einen Schlüssel besorgt. Kommen Sie.«
Gemeinsam gingen wir die wenigen Schritte bis zum Tor hin. Burt Goldman holte einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schloss. Er musste zweimal drehen, dann waren wir in der Lage, die eine Hälfte des Gittertors zu öffnen.
Vor uns lag das ansteigende Gelände. Auch hier auf dem flacheren Teil führte der Weg in die Höhe.
Manche Pfade waren nur über Treppen zu erreichen.
Man hatte sich wirklich Mühe gegeben, was die Gräber und die Grabsteine anging. Nichts wirkte ungepflegt. Manche der grauen Steine sahen aus wie frisch geputzt.
Mittlerweile war die Dämmerung vom Himmel gesickert und hatte ihren geheimnisvollen Schleier auf dem Friedhof hinterlassen. Die Figuren auf den Grabsteinen bekamen einen noch traurigeren Ausdruck. Manche sahen aus, als wollten sie jeden Moment anfangen zu weinen. Schatten umwoben sie wie Netze. Die Blätter der Laubbäume bildeten zusätzliche Dächer. Goldman war ebenfalls stehen geblieben. Er wollte uns den ersten Blick über das Gelände gönnen und schaute sich selbst um. Seine Waffe hielt er fest umklammert, auch wenn der Finger nicht am Abzugshahn lag. Man sah ihm die Qual an, die er empfand, obwohl sein Gesicht wie versteinert wirkte.
Burt Goldman hatte von einem intensiven Leichengeruch gesprochen. Suko und ich bezweifelten, dass er sich geirrt hatte. Es gab ihn bestimmt, und wir waren sicher, dass er nicht von normalen Leichen stammte, deren Gräber geöffnet worden waren. Es gab da eigentlich nur eine Lösung.
Irgendwo auf diesem Friedhof und verdammt gut versteckt, musste sich ein Ghoul eingenistet haben. Jemand anderer konnte diesen Geruch nicht abgeben. Ein Ghoul, ein Aasfresser, der sich von Toten ernährte. Dazu eine blondhaarige Frau, und ich fragte mich, wie das zusammenpasste. Wenn ein Ghoul einem Menschen begegnete, dann sorgte er dafür, dass dieser so schnell wie möglich umgebracht wurde, um einem der widerlichsten aller Dämonen ein Festmahl zu bieten.
Vom Friedhof her strömte uns eine schon nächtliche Ruhe entgegen. Es waren keine fremden Geräusche zu hören.
Weitere Kostenlose Bücher