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1188 - Wartesaal zum Jenseits

1188 - Wartesaal zum Jenseits

Titel: 1188 - Wartesaal zum Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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auf. Es wehte ein kühler Wind, der Glenda dazu zwang, sich den Schal enger um den Hals zu legen.
    Der Totengräber schien unsere Ankunft nicht bemerkt zu haben, sonst wäre er bestimmt gekommen.
    So betraten wir den Friedhof ohne ihn. Das alte Eisentor war einladend weit geöffnet.
    Glenda ging neben mir her. Wir sprachen nicht und ließen die Stille auf uns einwirken. Die Gräber sahen traurig aus, was natürlich an der Jahreszeit lag. Einige von ihnen hatten bereits den Tannenschmuck des Winters bekommen. Vereinzelt standen mit Deckeln versehene Windlichter auf den Gräbern, als wollten sie den Toten ins tiefe Jenseits leuchten.
    »Ich kann es Tessa nachfühlen, wie sie gelitten hat«, sagte Glenda und schüttelte sich. »Stell dir mal vor, du stehst hier in dieser Atmosphäre und hörst plötzlich die Stimme deiner verstorbenen Mutter. Das ist grauenhaft.«
    »Ich weiß, Glenda…«
    »Pardon, John. Ich dachte nicht mehr an den Tod deiner Eltern.« Sie drückte für einen Moment meinen linken Arm.
    Wo das Grab der Verstorbenen lag, wussten wir nicht. Aber wir würden es finden, denn der Totengräber musste sich einfach auf dem Friedhof befinden.
    Bevor wir ihn sahen, hörten wir ihn.
    Hinter einer blattlosen Buschgruppe hörten wir die Musik. Flotte Melodien, die leicht militärisch klangen.
    »Jeder richtet sich seinen Arbeitsplatz so nett wie möglich ein«, meinte Glenda, als wir die Buschgruppe umrundeten und endlich das Grab der verstorbenen Marga Tomlin sahen.
    Hier gab es noch keine Maschinen, deren Greifer sich exakt in den Boden fraßen, um die Gräber zu schaffen. Auf diesem Friedhof wurde noch mit der Hand gearbeitet, und damit war der Totengräber auch beschäftigt.
    Er sah uns noch nicht, denn er stand bereits im Grab und war mit seiner Arbeit ziemlich weit fortgeschritten, denn neben dem Viereck türmte sich schon ein Hügel.
    Das Radio stand an der schmaleren Breitseite und produzierte nach wie vor die schmissigen Melodien. Der Totengräber hatte uns weder gehört noch gesehen, es flogen nur immer die Lehm- und Erdklumpen aus dem Grab und erhöhten den Hügel weiter.
    Suko ging hin und stellte das Radio ab.
    Plötzlich wurde es still. Es flog auch keine Erde mehr aus dem Hügel entgegen. Dafür erschien Boris Long, der Totengräber. Er tauchte wie ein Zombie aus dem Grab auf und blieb am Rand stehen.
    Der Mann war eine echte Sensation. Über und über mit Tattoos bedeckt. Gesicht, Arme, Brust. Sogar auf der Glatze zeichnete sich ein Bild ab. Es war eine Frau mit weit geöffnetem Mund, die dem Betrachter die Zunge herausstreckte. Ansonsten war der Körper mit Fabeltieren beschmiert. Die Kühle machte dem Mann nichts aus. Er hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und das Hemd ziemlich weit aufgeknöpft.
    Eine Arbeit wie diese strengte an.
    »Sie sind Boris Long?« fragte ich.
    »Klar. Ihr seid die Bullen aus London, denen ich die Scheiße hier zu verdanken habe.« Er spie wütend zur Seite.
    »Welche Scheiße?« fragte Glenda. »Das sehen Sie doch.«
    »Sind Sie nicht Totengräber?«
    »Klar.«
    »Dann gehört das zu Ihrem Job.«
    »Ich mag es aber nicht, wenn man die Leichen noch mal hervorholt. Bisher habe ich gedacht, so etwas gebe es nur im Fernsehen. Jetzt hänge ich selbst drin.«
    »Sie werden es überleben«, sagte Glenda.
    »Witzig.«
    Ich kam zur Sache und erkundigte mich, wie weit er schon mit seiner Arbeit fortgeschritten war.
    Long strich über seine Oberlippe hinweg und sagte: »Schaut selbst nach, ich mache erst mal Pause.«
    Er ließ sich auf einem nahen Grabstein nieder und holte eine flache Flasche Schnaps aus der Außentasche seiner Hose. Dabei murmelte er etwas von Mittagspause und beschwerte sich auch über seinen Job.
    Aber er hatte gut gearbeitet, denn das Oberteil des Sargs lag bereits frei. Oder es war mehr der Deckel.
    Als Suko sich umdrehte und den Totengräber anschaute, winkte der Mann ab. »Keine Hektik, ich komme gleich. Nur noch den Nachtisch.« Der bestand aus einem Schluck Gin. Danach steckte er die Buddel wieder weg, streckte sich und griff wieder zu seinem Spaten, der im Lehmhaufen steckte.
    Es war ein Tag wie geschaffen für den Friedhof. Ein bleigrauer trauriger Himmel hing über dem Land wie eine Decke, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie nun fallen sollte oder nicht. Noch war das Areal von den Resten des Herbstes nicht völlig geräumt. Überall lagen noch die bunten und faulig riechenden Blätter, als wollten sie zusätzlich an die Verwesung des Fleisches

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