1188 - Wartesaal zum Jenseits
in die Höhe hieven musste, um ihn öffnen zu können.
»Soll ich es mit dem Stemmeisen machen oder versuchen, die Schlösser normal aufzukriegen? Sie sind allerdings verschmiert, das muss ich hinzufügen.«
»Nehmen Sie das Eisen«, sagte ich. »Gut, wie Sie wollen.«
Suko schob ihm mit dem Fuß eine Werkzeugtasche bis an den Rand zu. Der Totengräber hatte mit einem Griff das richtige Werkzeug gefunden. Er grinste zu uns hoch, als er es in der rechten Hand wog. »Das ist mal was Echtes für einen richtigen Kerl. Keine von diesen Computer-Tastaturen, auf denen die weichen Finger herumhämmern.«
Suko grinste. »Irgendwie hat er Recht.«
»Ist eben ein Mann aus dem Leben«, meinte Glenda.
Wir standen am Grabrand zusammen und schauten auf den Rücken des gebückten Totengräbers. Er suchte noch nach der richtigen Stelle, um das Stemmeisen anzusetzen. Dabei sprach er mit sich selbst, doch wir verstanden nicht, was er sagte.
Er kannte sich aus. An einer bestimmten Stelle an der rechten Sargseite setzte er das Stemmeisen an.
Dreck krümelte zu Boden. Wir hörten es knirschen, und einen Moment später bewegte sich der Deckel. Der Tätowierte war wirklich ein Fachmann.
Der Deckel wurde an einer Stelle langsam in die Höhe geschoben. Es entstand ein breiter Spalt zwischen Ober- und Unterteil, aber es war noch etwas anderes zu sehen.
Durch den Spalt drang ein heller Schein und malte einen schrägen Strich auf die Gestalt des Totengräbers.
Das war nicht normal.
Auch Boris Long wusste es. »He!«, rief er, »was ist das denn?«
»Weg!« schrie ich, denn ich ahnte, dass etwas passieren würde.
Long hatte meinen Schrei gehört.
Noch gebückt schaute er in die Höhe. Das Stemmeisen klemmte noch fest, und Boris Long wusste im Moment nicht, was er unternehmen sollte.
Suko sackte auf die Knie. Er wollte ihm die Hand reichen, aber auch das reichte nicht.
Urplötzlich fegte der Deckel in die Höhe, und es sah aus, als würde der gesamte Sarg explodieren…
***
Tessa Tomlin saß wie festgepappt auf ihrem Platz und wusste nicht, was sie denken sollte. Sie hielt die kleine Heiligenfigur noch immer fest und wunderte sich, dass nur ihre Hand zitterte und nicht der gesamte Körper.
Sie starrte auf das Gesicht. Sie schaute in die Augen, und sie wollte es zunächst nicht glauben. Doch der zweite und der dritte Blick gaben ihr Recht.
Es waren Augen. Und es waren die Augen ihrer verstorbenen Mutter. Sie hatte die gleichen gehabt.
Die gleiche Farbe, der gleiche Blick. Da paßte alles.
Tessa hielt den Atem an. Auch wenn sie gewollt hätte, es wäre ihr jetzt unmöglich gewesen, Luft zu holen. Sie fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt und war nicht in der Lage, den Blick auch nur einen Moment von diesem Gesicht abzuwenden.
Tessa wurde angeschaut. Sehr intensiv. So wie es die Mutter immer getan hatte. Früher, als Tessa Kind gewesen war, und später, als sie schon das jugendliche und danach das erwachsene Alter erreicht hatte. Ein so entschlossener und auch intensiver Blick, das war einfach ein Füllhorn an Erinnerungen.
Sie bewegte ihre Lippen, ohne sprechen zu können. In ihrem Magen spürte sie einen Druck und zugleich stieg der wilde Wunsch in ihr auf, nach der Mutter zu rufen.
Es klappte nicht. Nichts war mehr möglich.
Das Gesicht blieb starr, und es bewegten sich nur die Augen. Manchmal glaubte Tessa, dass die Mutter ihr zuzwinkern würde als Gruß aus dem Jenseits.
Der Begriff »Wartesaal zum Jenseits« schoss ihr wieder durch den Kopf. Jetzt konnte sich die Frau vorstellen, was damit gemeint war. Es gab eine Dimension, es gab diesen seltsamen Wartesaal, auch wenn sie sich darunter nichts vorstellen konnte.
Sie hatte auch eine Ahnung davon, dass die Mutter Kontakt mit ihr aufnehmen wollte. Vielleicht wartete sie darauf, dass die Tochter etwas sagte. Dazu war Tessa jedoch nicht in der Lage. Sie fühlte sich noch immer wie vereist.
Erst als sie die dumpfen Schritte hörte, geriet sie wieder zurück in die Realität, aber sie war noch nicht voll da. Allerdings sah sie, dass ein Schatten über die Heiligenfigur und auch über ihre rechte Hand fiel.
Ben Clemens war gekommen.
Tessa hob den Blick. Sie stellte fest, dass der Geistliche lächelte. »Was hat das zu bedeuten?«, hauchte Tessa.
»Sie haben es erkannt?«
Sie nickte. »Ja, das habe ich. Sonst hätte ich ja nicht gefragt. Ich habe es erkannt. Aber es ist so unmöglich, so fremd und einfach nicht zu begreifen.«
Clemens hob den Arm, als wollte er
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