12 - Im Auge des Tigers
Bergkette. Mustafa schloss einen Moment lang die Augen und rief sich die Karte ins Gedächtnis, die er so oft studiert hatte. Noch etwa eine Stunde weiter nach Norden, dann nach Osten.
»Brian, diese Schuhe werden in den nächsten Tagen auseinander fallen.«
»Hey, Dom, mit denen hab ich zum ersten Mal eine Meile in viereinhalb Minuten geschafft«, protestierte der Marine.
An solche Augenblicke dachte man doch immer wieder mit Stolz zurück.
»Mag ja sein, aber beim nächsten Mal, wenn du das ver-suchst, zerbröseln die Dinger, und du brichst dir die Ha-xen.«
»Meinst du? Ich wette einen Dollar dagegen.«
»Topp«, sagte Dominic prompt. Sie besiegelten die Wette feierlich mit Handschlag.
»Ich finde auch, sie sehen ziemlich ramponiert aus«, bemerkte Alexander.
»Soll ich mir auch neue T-Shirts kaufen, Mom ? «
»Diese zerstören sich bestimmt in einem Monat selbst«, dachte Dominic laut.
»Na klar! Hör mal, ich hab dir heute Morgen mit meiner Beretta das Fell über die Ohren gezogen.«
»Glück hat jeder mal«, versetzte Enzo verächtlich. »Zeig erst mal, ob du das auch zweimal in Folge schaffst.«
»Darauf wette ich fünf Dollar.«
»Topp.« Wieder ein Handschlag. »Auf die Art könnte ich reich werden«, sagte Dominic. Dann war es Zeit, ans Dinner zu denken. Piccata am Abend. Er hatte eine Vorliebe für gutes Kalbfleisch, und die Geschäfte im Ort ließen keine Wünsche offen. Schade um das Kalb, aber er war schließlich nicht derjenige, der ihm die Kehle durchgeschnitten hatte.
310
Da: I-64, nächste Ausfahrt. Mustafa war müde genug, Abdullah wieder das Steuer zu überlassen, doch er wollte die letzte Etappe unbedingt selbst fahren und glaubte, eine Stunde könnte er noch durchhalten. Sie steuerten auf einen Pass in der nächsten Bergkette zu. Auf der Gegenfahrbahn herrschte dichter Verkehr. Der Highway führte bergauf, bis schließlich… ja, da war er, ein flacher Gebirgspass mit einem Hotel am südlichen Ende. Und vor ihren Augen erstreckte sich im Süden ein herrliches Tal. Der Name stand auf einem Schild, doch die Buchstaben waren zu verwir-rend, als dass Mustafa daraus im Kopf ein zusammenhängendes Wort hätte bilden können. Er genoss einen Moment lang den Anblick, der sich zu seiner Rechten bot. Das Paradies hätte kaum lieblicher sein können… Es gab sogar eine Parkbucht, wo man anhalten konnte, um auszusteigen und sich in Ruhe an der Aussicht zu erfreuen. Aber dazu hatten sie natürlich keine Zeit. Wie passend, dass die Straße nun sanft bergab führte. Mustafas Stimmung schlug augenblicklich um. Nur noch weniger als eine Stunde. Eine letzte Zigarette zu Ehren des gelungenen Timings. Rafi und Zuhayr auf dem Rücksitz waren wieder wach und bestaunten die Landschaft. Es würde das letzte Mal sein, dass sie dazu Gelegenheit hatten.
Ein Tag zum Erholen und zum Auskundschaften der Umgebung – Zeit, sich per E-Mail mit den drei anderen Teams zu koordinieren –, und dann konnten sie ihre Mission erfüllen. Anschließend würde Allah selbst sie in die Ar-me schließen. Eine beglückende Vorstellung.
311
Kapitel 13
Treffpunkt
Nach mehr als 2 000 Meilen Fahrt verlief die Ankunft am Zielort völlig unspektakulär. Weniger als einen Kilometer nach der Abfahrt von der Interstate 64 fanden sie ein Holiday Inn Express, das annehmbar aussah – insbesondere da es direkt nebenan ein Roy Rogers und keine hundert Meter weiter bergauf ein Dunkin’ Donuts gab. Mustafa ging hinein, verlangte zwei Zimmer mit Verbindungstür und zahlte mit seiner Visa-Card. Der Rechnungsbetrag würde von dem Konto auf der Bank in Liechtenstein abgebucht werden. Die Erkundungstour verschoben sie auf morgen – im Augenblick konnte sie nichts so sehr locken wie die Aussicht auf Schlaf. Selbst essen war im Vergleich dazu unwichtig. Mustafa fuhr den Wagen dicht an das Gebäude heran, in dem ihre Zimmer lagen, und stellte den Motor ab. Rafi und Zuhayr schlossen die Zimmertüren auf und kehrten dann zu-rück, um den Kofferraum auszuräumen. Sie trugen das wenige Gepäck sowie die darunter versteckten Maschinenpistolen, die noch immer in dicke, billige Decken gewickelt waren, in ihr Quartier.
312
»Wir sind da, Kameraden«, verkündete Mustafa und betrat den Raum. Es handelte sich um ein völlig gewöhnliches Motel, keins der komfortableren Sorte, an die sie sich mittlerweile gewöhnt hatten. Jedes der beiden Zimmer war mit einem Bad und einem kleinen Fernseher ausgestattet.
Die Verbindungstür stand offen. Mustafa
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