12 Stunden Angst
treulose Frauen den Kopf gelegt hatten.
»Hast du den Notruf alarmiert?«, fragte sie vom Treppenabsatz her.
Warren war bereits unten angekommen. »Zwecklos.«
»War er schon tot, bevor du nach oben gekommen bist?«
»Nein, aber es ging schnell zu Ende. Wahrscheinlich hat dieKugel seine Wirbelsäule getroffen. Er konnte die Beine nicht mehr bewegen. Außerdem muss sie seine absteigende Aorta getroffen haben, weil er innerlich auszubluten schien.«
»Was für ein toller Schütze du bist«, sagte Laurel bitter.
Warren blickte auf den Leichnam hinunter. »Er hat zuerst geschossen. Du hast es gesehen.«
»Mommy, ich krieg keine Luft mehr«, sagte Beth mit dumpfer Stimme.
Laurel drehte den Kopf ihrer Tochter zu der dem Geländer abgewandten Seite. Beth hatte seit den Ereignissen auf dem Dach nicht mehr gesprochen; sie nuckelte am Daumen, und ihre Augen waren glasig.
»Deck ihn mit irgendwas zu«, verlangte Laurel.
»Mach das selbst. Ich nehme solange Beth.«
»Du fasst sie nicht an!«
Warren blickte auf und schob den Unterkiefer vor. »Glaub ja nicht, es hätte sich irgendwas geändert. Kyle ist tot, weil er eine Entscheidung getroffen hat. Jede Entscheidung hat Konsequenzen. Einschließlich deiner.«
»Für wen hältst du dich eigentlich? Für Gott? Du hast soeben einen Menschen erschossen! Dieser Wahnsinn ist vorbei!«
»Komm runter, los. In die Küche.«
Laurel schirmte Beth’ Augen ab, durchquerte mit ihr das Foyer und folgte Warren in die Küche. Beth war merklich schwerer als noch vor einem Jahr. Laurels Rücken und Schultern schmerzten bereits. Während Warren aus dem Küchenfenster starrte, holte sie ein Glas aus dem Schrank.
»Was tust du da?«, fragte er, ohne den Blick vom Rasen vor dem Haus abzuwenden.
»Ich gebe Beth etwas zu trinken.«
»Gib ihr einen Teelöffel Benadryl.«
»Ist das dein ärztlicher Rat? Die eigene Tochter mit Medikamenten vollpumpen, damit sie einschläft?«
Warren verdrehte die Augen. »Das alles wird weniger traumatisch für sie, wenn sie schläft.«
Laurels Magen verkrampfte sich.
»Was denn noch?«
»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Sie kann im Panikraum schlafen.«
Laurel kam sich vor, als würde sie mit einem Roboter reden. »Warren, du hast soeben deinen Partner getötet! Deine Praxis ist ausgebrannt. Eine deiner Angestellten hat versucht, einen Bundesbeamten umzubringen. Ist dir eigentlich klar, dass die Polizei jeden Moment hier sein wird?«
»Genau deshalb soll Beth im Panikraum schlafen.«
»Nein. Sie wird außer sich sein vor Angst.«
»Sie wird vor allem sicher sein. Nicht einmal Kugeln durchschlagen zwei Zentimeter dicken Stahl.«
Laurel zuckte erschrocken zusammen. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. »Du hast allen Ernstes vor, uns als Geiseln zu nehmen, wenn das Haus von Polizisten umstellt wird?«
Endlich zeigte sich auf Warrens Gesicht eine Regung. »Das ist unser Haus, Laurel. Mein Haus. Mein Land. Ich erwarte, dass die Polizei unsere Rechte respektiert und uns in Ruhe lässt, damit wir unsere familiären Probleme allein ausdiskutieren.«
Laurel schloss die Augen. Erst jetzt drang die Ungeheuerlichkeit dessen, was geschehen war, machtvoll in ihr Bewusstsein, und sämtliche Schleusen öffneten sich. Während sie hemmungslos weinte, hatte sie eine Eingebung, die ihr den Weg in die Freiheit zeigte. Das Passwort zu diesem Weg war eine Lüge – doch im Gegensatz zu den Weglassungen des vergangenen Jahres musste sie diesmal eine Geschichte verkaufen. Zumindest war Kyle Auster nicht umsonst gestorben. Er würde ihr im Tod einen Dienst erweisen, den er ihr als Lebender nie hätte erweisen können.
Laurel trug Beth zu der Polsterbank in der Ecke der Küche. Beth versuchte, sich an sie zu klammern, doch Laurel setzte sie entschlossen hin und streichelte ihr eine halbe Minute lang die Stirn. »Warren«, sagte sie schließlich, wobei sie sich aufrichtete und die Hände in die Hüfte stemmte. »Ich kann nicht zulassen,dass du Beth einem solchen Risiko aussetzt. Ich werde dir erzählen, was du wissen willst. Aber zuerst musst du mir versprechen, dass du mit diesem Wahnsinn aufhörst. Es ist mir egal, was du mit mir machst, aber du musst Beth aus dem Haus lassen.«
Als er die Entschlossenheit in ihrer Stimme hörte, wandte er sich vom Fenster ab und blickte sie an. »Glaubst du wirklich, Beth droht eine Gefahr von mir? Du bistdiejenige, die unsere Kinder in Gefahr gebracht hat. Wenn du mir die Wahrheit sagst, wärst du vielleicht überrascht,
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