12 Stunden Angst
eine Lokomotive. Direkt hinter unserem Haus endete er vor einem Fünfzig-Zentimeter-Rohr, das unterirdisch bis zum Fluss führte. Wenn der Kanal voll war, entstand dort ein gewaltiger Wirbel.
Jedenfalls, an jenem Tag blies der Wind den gelben Ball, den Sam immer jagte, in den Kanal, und Sam sprang hinterher. Er bekam den Ball zu fassen, doch die Strömung ließ ihn nicht mehr los. Er kam nicht mehr zurück ans Ufer. Ich wollte hinter ihm her springen, doch mein Dad kam aus dem Garten gerannt und hielt mich fest. Ich wäre ertrunken, aber das war mir egal. Wenn man acht Jahre alt ist, denkt man nicht über solche Dinge nach.«
Laurel atmete kaum.
»Sam kämpfte eine Minute lang, als er in den Wirbel geriet. Dann wurde er unter Wasser gerissen. Ich weinte und schrie und betete, er möge die Luft anhalten, bis er auf der anderen Seite vom Rohr wieder zum Vorschein kam, doch es waren bestimmt zweihundert Meter, vielleicht dreihundert. Ich fand ihn kurz vor Einbruch der Dunkelheit, unten am Fluss. Ertrunken. Ich habe sehr oft an ihn gedacht, wie er durch dieses lange, dunkle Rohr geschossen sein muss, wie er gekämpft hat, die Luft angehaltenhat … es hat einfach zu lange gedauert. Er hatte nicht den Hauch einer Chance. So fühle ich mich heute, Danny. Vor einem Jahr hat mich die Strömung in den Graben gerissen, und seither kämpfe ich wie ein Besessener dagegen an, unter Wasser gesogen zu werden, aber jetzt gehen mir die Kräfte aus. Als ich heute Morgen diesen Brief fand, da hat es mich in das Rohr gerissen. Ich kann nicht atmen, kann nichts sehen. Und ich kann nicht wieder dahin zurück, wo es angefangen hat. Ich kann nichts weiter tun als darauf warten, dass ich am anderen Ende des Rohres wieder herausschieße.« Warrens Sessel knarrte, als er sich zurücklehnte. »Und Sie wissen, wie diese Geschichte ausgeht.«
Laurel schmeckte Salz auf der Zunge. Ihr Gesicht war nass von Tränen. Wie konnte sie zwölf Jahre lang mit diesem Mann verheiratet gewesen sein, ohne jemals die Geschichte von seinem Hund gehört zu haben? Was für eine Frau war sie gewesen, dass ihr eigener Mann ihr nicht seine schrecklichsten Alpträume anvertrauen wollte?
»Sie sind in einer schlimmen Situation, Warren«, räumte Danny ein. »Trotzdem rate ich Ihnen eines: Sie müssen Ihre Ehe so analysieren, als wären Sie kein kranker Mann. Wenn Sie nicht krank wären, und es gäbe einen anderen Mann im Leben Ihrer Frau – was würden Sie tun? Sie wären wütend, sicher. Doch am Ende würden Sie Laurel gehen lassen und versuchen, der beste Vater für Ihre Kinder zu sein, den man sich nur denken kann. Sie würden Laurel zeigen, welch ein großer Fehler es gewesen ist, Sie zu verlassen. Doch so etwas zeigt man einer Frau, indem man das ist, was Sie längst sind, Warren – ein Mann von Ehre, kein angepisster Redneck, der nicht imstande ist, seinen Scheiß in der Socke zu behalten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Laurel fürchtete, dass Danny zu weit gegangen war.
»Ich glaube, letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass die Probleme anderer Leute einem immer einfach erscheinen«, sagte Warren. »Sie werden erst dann kompliziert, wenn man sie selbst am Hals hat. Ich bin froh, dass wir uns unterhalten haben, Danny.Doch letzten Endes bin ich derjenige, der entscheidet, wie diese Sache endet.«
Die Endgültigkeit in seiner Stimme ließ neue Angst in Laurel aufsteigen.
»Nein, legen Sie noch nicht auf«, sagte Danny, und zum ersten Mal war seiner Stimme so etwas wie Anspannung anzuhören. »Vorhin haben Sie gesagt, Sie würden auf etwas warten. Irgendwelche Berechnungen am Computer. Warten Sie immer noch darauf?«
»Ja. Laurel hat mir Probleme gemacht, aber ich habe einen anderen Computer zu Hilfe genommen.«
»Worauf genau warten Sie?«
»Den Namen.«
»Den Namen?«
»Den Namen von dem Kerl, der meine Frau gevögelt hat. Sie immer noch vögelt, soviel ich weiß.«
Laurel überlegte, ob Danny allein war oder ob andere Männer ihn jetzt, in diesem Moment, beobachteten.
»Sie hat den Namen auf einem Computer im Haus? Den Namen von diesem Kerl?«
»Ich bin ziemlich sicher. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf deswegen – ich melde mich bei euch Jungs, sobald ich ihn habe.«
»Und wie lange soll das noch dauern?«
»Keine Ahnung. Es ist eine Wahrscheinlichkeitssache. Könnten zehn Minuten sein oder auch zehn Stunden.«
Danny räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass wir so lange Zeit haben, Warren. Nicht mal annähernd.«
»Warum
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