12 Stunden Angst
rote Pusteln gebildet. Einige davon hatte sie bereits blutig gekratzt. Sobald sie vorübergehende Erleichterung verspürte, kehrten ihre Gedanken zu Warren zurück.
In den vergangenen zehn Minuten hatte Laurel einen tieferen Einblick in das Herz ihres Mannes gewonnen als während ihrer gesamten Ehe zuvor. Die Verzweiflung, die er Danny gegenüber enthüllt hatte, hatte ihr sämtliche Illusionen geraubt, sodass Hoffnung nur noch ein schwacher Traum, eine Erinnerung aus Kindertagen zu sein schien. Schuldgefühle plagten sie. Doch es war völlig sinnlos, darüber nachzudenken. Sie musste handeln.
»Warren?«, fragte sie. »Könnte ich einen Moment mit dir reden?«
»Worüber?«, drang die körperlose Stimme hinter dem Computermonitor hervor. »Meinen Tumor?«
»Nicht nur.«
»Schieß los.«
»Würdest du bitte herkommen?«
»Ich höre dich von hier aus laut und deutlich.«
Ohne Blickkontakt würde es viel schwieriger werden. »Du weißt, was ich dich fragen möchte, nicht wahr? Warum hast du mir nicht von deiner Diagnose erzählt, als sie gestellt wurde?«
»Warum hätte ich? Ich habe keinen Sinn darin gesehen.«
»Keinen Sinn?«
»Es hätte die Dinge nur schlimmer gemacht.«
»Wieso?«
Er seufzte und lehnte sich im Sessel zurück. »Ich habe es in meiner Praxis immer wieder gesehen. Leute erkranken an Krebs, und alles in ihrem Leben ändert sich. Manchmal ist es nicht ganz so schlimm … Schilddrüsenkrebs, Hodenkrebs, ein paar Lymphome, Erkrankungen, die frühzeitig festgestellt und behandelt werden. Aber wenn man an einem von der bösartigen Sorte erkrankt, einem tödlichen, sehen einen die Leute nicht mehr so an wie vorher. Es ist eine unterbewusste Reaktion. Die Leute gehen einem aus dem Weg. Man ist befleckt, man trägt das Zeichen des Todes vor sich her. Selbst wenn die Chirurgen schwören, dass sie alles herausgeschnitten haben, denken die Menschen, dass man jederzeit wieder erkranken kann. In ihren Augen ist man erledigt.«
»Ich glaube nicht, dass es heute noch so ist, Warren.«
Sein Gesicht kam hinter dem Monitor hervor. Die Gleichgültigkeit darin ließ sie frösteln. »Hast du viel Erfahrung mit Krebspatienten?«
»Mir ist schon klar, dass du mehr zu sehen bekommst als ich …«
»Laurel, ich könnte genauso gut Bauchspeicheldrüsenkrebs haben, okay? Das Schlimmste daran ist, dass die Leute dichbehandeln, als wärst du längst tot, noch bevor du gestorben bist. Wenn du Vertreter bist, fühlen deine Kunden sich unwohl in deiner Gegenwart. Dein Chef lächelt dich an, doch hinter deinem Rücken sucht er bereits nach einem Ersatz für dich. Die Leute sagen, dass sie dich unterstützen, aber das ist Blödsinn. Erinnerst du dich an diesen Schauspieler, der in der Fernsehserie Spenser mitgespielt hat? Robert Urich? Er ist vor ungefähr zehn Jahren an einem Synovialzellsarkom erkrankt. Er ging damit an die Öffentlichkeit und erzählte aller Welt, er sei fest entschlossen, seine Krankheit zu besiegen. Und was tat der Sender? Er stellte die Serie ein. Urich lebte noch fünf Jahre. Wenn man Arzt ist, dann ist es noch schlimmer. Die Patienten bekommen es mit der Angst zu tun. Niemand will an seine eigene Sterblichkeit erinnert werden. Sie sehen einen Kerl wie mich, Mitte dreißig, in perfekter körperlicher Verfassung … und er stirbt an Krebs? Das kann nicht sein, das wollen sie nicht wahrhaben. Ich verüble es ihnen nicht mal. Ich wollte es ja selbst nicht glauben. Aber irgendwann blieb mir nichts anderes übrig. Ich wollte während meiner letzten Lebensmonate nicht behandelt werden wie ein Toter, verstehst du? Ich bin früh genug tot.«
Laurel versuchte sich vorzustellen, wie sie sich an seiner Stelle fühlen würde. Wie es sein würde zu wissen, dass er alles verlieren würde, selbst seine Kinder. Doch Warren hatte recht: Es gelang ihr nicht. Es war einfach nicht möglich. »Ich verstehe ja, dass du es vor deinen Patienten verschwiegen hast, selbst vor Auster. Aber warum hast du es nicht wenigstens mir gesagt? Nur mir? Du weißt, dass ich geschwiegen hätte. Ich hätte dir bei allem helfen können. Dich zu den Behandlungen fahren … Was immer nötig gewesen wäre.«
Sein Kopf verschwand wieder. »Ich hatte daran gedacht. Aber was hättest du tun können, außer Mitleid für mich zu empfinden und dir Sorgen wegen der Zukunft zu machen?«
Warren erhob sich von seinem Platz und kam um den Schreibtisch herum. Er blieb im Durchgang zwischen Arbeits- und Wohnzimmer stehen und blickte sie an.
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