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12 Stunden Angst

12 Stunden Angst

Titel: 12 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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fragte Danny.
    »Hören Sie, ich mag krank sein, aber mein Urteilsvermögen ist erstklassig. Der Tumor sitzt im Hirnstamm, nicht im Großhirn. Noch nicht.«
    Hirnstamm?, dachte Laurel. Großhirn? Er hat einen Hirntumor? In einem bestürzenden Ansturm von Erinnerungen sah sie das Fett auf Warrens üblicherweise schlanken Hüften, die merkwürdige Beule in seinem Nacken. Steroide!
    »Sie sind der Mediziner«, sagte Danny. »Aber was Sie hier tun … das ist nicht der Warren Shields, mit dem ich die Fußballmannschaft trainiert habe. Oder der sachliche Arzt, dem ich das Fliegen beigebracht habe.«
    »Jeder Mann kann an einen Punkt gelangen, an dem er zerbricht, Danny. Irgendwann müssen Sie sich wehren.«
    »Reden Sie jetzt wieder von Laurel?«
    »Ja.«
    »Ich glaube nicht, dass Ihre Frau Ihr Hauptproblem ist, Warren. Ich glaube eher, diese andere Sache lässt das Problem größer erscheinen, als es in Wirklichkeit ist.«
    Laurels Erinnerungen rasten. All die Fahrradrennen, an denen Warren im letzten Jahr teilgenommen hatte, ohne mit einem Pokal zurückzukehren, das Ausbleiben von Anrufen, dass er gut angekommen sei, die seltsame Zurückhaltung bei den Kindern, die unerwarteten Augenblicke rührseliger Sentimentalität …
    »Ich erzähle Ihnen etwas von dieser ›anderen Sache‹, wie Sie es nennen«, sagte Warren. »Ich denke verdammt oft daran, Danny. Ich denke an all meine Patienten, die gestorben sind. Die meisten waren ältere Menschen, aber nicht alle. Ich erinnere mich zurück und versuche zu sehen, ob die jüngeren irgendein Zeichen trugen. Ob sie vielleicht irgendetwas getan hatten, dass das Schicksal sich gegen sie gewendet hat. Aber sie haben nichts getan, Danny. Eines Tages sagte Gott – oder das Schicksal – einfach nur: ›Ich lasse dich nicht mehr glücklich sein. Ich werde dir keine Kinder schenken. Ich lasse dich keinen Tag länger atmen. Ich nehme dir die Fähigkeit, dich zu bewegen.‹«
    »Warren …«
    »Nein, hören Sie zu. Es ist wichtig. Ich habe versucht, an Gott zu glauben, mein Leben lang. Daran, dass es Gerechtigkeit gibt im Leben, einen größeren Plan oder eine Bedeutung. Aber das ist vorbei. Ich kann nicht mehr. Ich habe zugesehen, wie einige der besten Menschen, die ich gekannt habe, verkrüppelt wurden oder starben, bevor sie dreißig Jahre alt waren, oder vierzig, was auch immer. Ich habe Babys an Leukämie sterben sehen. Ich habe zugesehen, wie Kleinkinder an Infektionen starben. Ich suche nach einem Grund, nach einem Muster, irgendetwas, das all das rechtfertigen würde. Aber es gibt nichts. Absolut nichts. Bevor ich selbst krank wurde, habe ich das gleiche Spiel gespielt wie meine Kollegen, und die Augen davor verschlossen. Aber der Tumor, Danny, hat mir die Schuppen von den Augen gerissen. Ich gehe zu Beerdigungen und höre die selbstgefälligen Prediger, wie sie den trauernden Hinterbliebenen erzählen, Gott hätte einen Plan. Das ist eine verdammte Lüge. Mein Leben lang habe ich mich an die Regeln gehalten. Ich habe in der Schlange angestanden, habe den Bedürftigen gegeben, habe die zehn Gebote befolgt … und was hat es gebracht? Gar nichts. Erzählen Sie mir bloß nichts von Hiob. Erzählen Sie mir nicht, Gott wolle mich prüfen, indem er mich tötet … Das ist, als würden wir sagen, wir mussten die Stadt zerstören, um sie zu retten. Es ist ein grausamer Witz, ein Streich, den wir uns selbst spielen. Sagen Sie mir nicht, im Jenseits wird alles wieder gut – wissen Sie, warum? Der Schmerz und die Agonie eines einzigen sinnlos sterbenden Kindes sind ein Hohn auf sämtliche goldenen Himmelstrompeten! Ich will nicht zur Rechten eines Gottes sitzen, der Kinder foltert oder sogar dabeisitzt und tatenlos zusieht. Freier Wille, du meine Güte! Ich habe mir nicht ausgesucht, mit siebenunddreißig zu sterben! Das geht allein auf Gottes Konto. Wir suchen nach einem Sinn, wo es keinen gibt, weil wir zu viel Angst davor haben, Zufall und Sinnlosigkeit zu akzeptieren. Nun, ich habe es akzeptiert. Aus vollem Herzen sogar. Und wenn man das erst getan hat, sieht die Welt nicht mehr aus wie zuvor.«
    Laurel fühlte sich, als hätte sie den Kontakt zur Realitätverloren. Sie hatte Warren außerhalb der Kirche nie mehr als drei Sätze über Gott reden hören. Es war zutiefst verwirrend, jetzt aus seinem Mund eine Tirade über die Absurdität des Glaubens zu hören. Doch das, was hinter diesen Worten lag, war der eigentliche Auslöser für ihren Schock, eine Tatsache, die ihre

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