120 - Sterben in Berlin
Kraft gekostet – und nebst seinen Vertrauten auf dem Balkon erschienen war, nahmen die Blechbläser Aufstellung. Das Volk erhob sich, und die Wächter verteilten Fußtritte nach links und rechts, bis auch der letzte Gefangene aufstand. Schließlich konnten die Bläser ihren Jagdmarsch schmettern. Von den Dächern und aus den Baumwipfeln zwischen den Häusern flatterten Vogelschwärme auf. Irgendwo bellten Hunde.
Viel zu schnell verklang die Musik; viel zu schnell für die Gefangenen. Nacheinander wurden sie unter den Balkon geführt. Blutsverwandte Mitglieder oder ranghohe Beamte des Braandburger Königshauses bekamen die Gelegenheit zu einer letzten Erklärung und wurden danach – unabhängig von deren Inhalt – aufs Podest geführt. Allen anderen stand es frei, den Eid abzulegen oder zu sterben.
Den König trug man auf einer Art Sänfte vor Bolle Karajans Balkon und anschließend aufs Podest, denn er war alt und gebrechlich. Er bat um sein Leben, sein Großneffe auch. Sein Urenkel jedoch starb mit dem Feuer des Hasses in den Augen und mit einem Fluch auf den Lippen. Ohne mit der Wimper zu zucken legte er seinen Blondschopf unter das Henkersbeil.
Ähnlich der Oberste der Königlichen Leibgarde von Braandburg und seine beiden Hauptwebel. Der Kämmerer und der Stallmeister der zerstörten Siedlung jedoch schworen Bolle Karajan den Eid. Auch alle überlebenden Sippenälteste legten den Eid auf den Braandburger Stammesfürsten und auf die Flagge mit dem roten Greifen ab. Die Schlächterei fand ein Ende.
Rudgaar konnte die Profile des Fürsten und seines Ersten Beraters und Gesandten beobachtete – da regte sich nichts.
Weder während der Enthauptungen, noch während der Schwurzeremonie. Von Siimn hatte er nichts anderes erwartet – im Schädel trug der eine Rechenmaschine statt einem Hirn mit sich herum und in der Brust einen Eiszapfen statt eines Herzens – aber der Fürst?
Bolle Karajan war eigentlich ein temperamentvoller Mann: War er zornig, schrie er, war er traurig, weinte er, war er begeistert, jubelte er; und all das manchmal innerhalb weniger Minuten. Doch weder Schlächterei noch Unterwerfung dort unten auf dem Platz schienen ihn in irgendeiner Weise zu berühren. Irgendwann fingen er und Siimn sogar an zu tuscheln.
Rudgaar schob sich ein Stück näher an sie heran. Vielleicht konnte er etwas über den Gesundheitszustand des Fürsten oder über sonst eine Geheimniskrämerei erfahren. Dafür schließlich bezahlte ihn Johaan von Beelinn.
»Olaafs Tochter ist drin«, raunte Siimn.
»Gut.« Bolle Karajan hob müde die Rechte. »Und wann wird Naura Meister Johaan ausschalten…?«
Rudgaar war wie elektrisiert. Meister Johaan ausschalten?
Naura? Und was war mit Olaafs Tochter? Rudgaar begriff nicht ganz, wo die Tochter des Lauschers drin sein sollte.
Unten, auf dem Podest vor dem Hackklotz, fluchte der oberste Braandburger Leibgardist dermaßen laut, dass Rudgaar nur noch einzelne Worte verstand: Lucida, Reich, Ausschalten und immer wieder Naura.
Wer, bei Orguudoo, war diese Naura? Siimns ehemalige Privathure, sicher, aber warum, beim Himmel über Beelinn, spielte sie plötzlich so eine große Rolle in den Gesprächen zwischen dem Stammesfürsten und seinem Berater? Rudgaar hatte keine Ahnung.
Unten, auf dem Podest, prallte der Schädel des Braandburger Leibgardisten auf die Dielen. Das Volk applaudierte und verlangte nach weiteren Köpfen. Rudgaar beugte sich zu seinen Doyzdoggern hinunter und kraulte sie, als müsste er sie beruhigen, lauschte in Wirklichkeit aber auf die Worte, die zwischen Bolle Karajan und Siimn hin und her gingen.
»Was wird Naura als nächstes tun?«, fragte der Fürst.
»Was sie will«, antwortete Siimn.
Und Bolle Karajan fuhr sich mit ungelenker Geste über die Stirn und nickte: »Das ist gut. Was sie will, das ist sehr gut…«
***
Beelinn, Anfang Juli 2520
Bulldogg holte seinen Proviantbeutel und seinen Mantel aus den Mannschaftsräumen. Danach ging er zur Tür der Gasträume. Zwei Minuten später kam die Schöne heraus.
Bulldogg wusste, dass sie Naura hieß; fast jeder in Beelinn wusste das inzwischen. Fragend sah sie ihn an, während sie die schwere Tür zudrückte.
»Der Palast ist weitläufig«, knurrte Bulldogg. »Man verirrt sich leicht. Ich begleite dich zum Ausgang.«
Sie ließ es sich widerstandslos gefallen, fragte unterwegs nach seiner Familie und nach der Tochter der Königin.
Bulldoog beantwortete ihre Fragen knapp und fragte seinerseits, was
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