1206 - Das Blut der schönen Frauen
wie du willst. Das Brot steht noch auf dem Tisch. Du kannst es ruhig essen. Das saugt auf.«
»Ja, danke.« Sie griff danach, brach eine kleine Scheibe in zwei Hälften, aß und gab sich dabei innerlich einen Ruck. Sie war jetzt bereit, das zu fragen, was sie schon immer hatte fragen wollen, seit sie hier am Tisch saß.
Ein kurzes Räuspern noch, dann war ihr die Aufmerksamkeit der Frau sicher. »Du hast mir ja davon erzählt, dass wir allein hier im Haus sind.«
»Richtig.«
Alexandra zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht so richtig glauben, Kalina.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Stimmen gehört habe.«
Die Frau senkte den Kopf. »Ähm«, sagte sie, »du bist dir sicher, dass du Stimmen gehört hast?«
»Ja.«
»Wo denn?«
»Hier im Haus.«
Kalina sagte nichts. Sie legte bewusst eine Pause ein. Dachte nach, runzelte die Stirn, bis sie sich schließlich ein Lächeln abrang. »Weißt du, Alexandra, es ist manchmal so, dass ich mich hier sehr allein fühle. Das kannst du sicherlich nachfühlen. Und da spreche ich dann mit mir selbst.«
»Ach ja…?«
»Du kannst es mir glauben!«
Alexandra griff wieder nach ihrem Glas, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nichts zu trinken. Jetzt hatte sie einfach den Wunsch. Sie kippte den Rest sogar hinunter und sagte dann: »Ich weißt nicht, aber ich glaube, verschiedene Stimmen gehört zu haben…«
Kalina sagte nichts. Sie saß einfach nur da und sah ihren Gast über den Tisch hinweg an.
Der Blick war Alexandra unangenehm. Wie immer, wenn sie etwas nervös war, rückte sie ihre Brille zurecht. Den nächsten Satz brachte sie nur mühsam hervor. »Aber sprechen Sie denn auch in verschiedenen Stimmen und Tonlagen?«
Diesmal trank Kalina. Sie hob das Glas sehr hoch, um einen Teil ihres Gesichts zu verbergen. Erst als es wieder freilag, schüttelte sie den Kopf. »Ich denke, da hast du dir etwas eingebildet. Ich spreche nicht mit verschiedenen Stimmen. Aber es kann sein, dass dich das Radio irritiert hat. Eine Glotze besitze ich nicht. Dafür dieses kleine Ding dort auf der Fensterbank.«
Alexandra schaute hin. Irgendwo wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. Kalinas Blick hatte sich auch verändert. Er war kälter und lauernder geworden. Deshalb wollte Alexandra es nicht auf die Spitze treiben und sagte: »Ja, das wird es wohl gewesen sein. In der Stille hörte sich das nur etwas anders oder verfremdet an. Es mag auch am Schall liegen, dass ich die Stimmen aus dem Radio nicht von den normalen unterscheiden konnte.«
Kalina winkte ab. »So etwas passiert immer wieder mal. Komm, trink noch einen Schluck. Er wird dir gut tun. Der Wein ist das richtige Mittel, um gut schlafen zu können.« Sie griff nach der Flasche, die halb leer war. Eigentlich wollte Alexandra nichts trinken, aber sie wollte die Frau auch nicht vor den Kopf stoßen und nicht noch größeres Misstrauen in ihr aufkeimen lassen. Aus diesem Grunde sagte sie nichts und schaute zu, wie sich ihr Glas allmählich füllte.
Der Wein war nicht eben mild. Bereits die ersten beiden Gläser hatten bei der Deutschen für ein wohliges Gefühl gesorgt. Sie verglich es auch mit einer leichten Bettschwere.
Jetzt war es gut, dass sie gut gegessen hatte, alles andere wäre fatal gewesen. Den Wein auf leeren Magen zu trinken - sie wagte erst gar nicht, daran zu denken.
»Dann auf die Stimmen«, sagte Kalina und hob ihr Glas. Sie ließ ihren Gast nicht aus den Augen.
Alexandra lächelte etwas verschwommen. Die Wärme wollte nicht aus ihrem Körper weichen. Dieser Schluck mundete ihr nicht mehr so gut.
Das Verlangen, die Augen zu schließen, wurde immer stärker. Fast schon mit Gewalt musste sie sich zusammenreißen.
Kalina hatte ihren Platz am Tisch nicht verlassen. Trotzdem kam es der Deutschen vor, als wäre sie auf ihrem Stuhl weiter nach hinten gerückt.
»Es… es… tut mir Leid«, sagte sie.
»Was denn?«
Alexandra deutete auf das Glas. »Er ist gut, aber er ist zu schwer. Er macht mich müde, verstehst du? Ich…ich… kann einfach nichts mehr trinken. Sonst kippe ich hier vom Stuhl und schlafe hier ein.«
»Das solltest du auf keinen Fall.«
»Kann ich dann gehen?«
»Wenn du willst…«
»Gern. Ich möchte nach oben in mein Zimmer und mich lang machen. Es war ein harter Tag für mich. Und jetzt noch der Wein. Irgendwie bin ich kaputt.«
»Das kann ich verstehen. Möchtest du morgen früh geweckt werden?«
Alexandra überlegte noch. Der seltsame Unterton in Kalinas Stimme war ihr nicht
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