1206 - Das Blut der schönen Frauen
dass von außen her schmale Schatten über die Scheiben drängten. Sie stammten von den Ranken der Pflanzen, die das Fenster umwuchsen.
Auch im Winter hatten sich die Reste der Kletterpflanzen gehalten. In ein paar Wochen würden sie wieder mit Blättern bestückt sein und die Sicht nach draußen noch mehr verschlechtern.
Sie zerrte das Fenster auf. Das Holz hatte sich verzogen. Zwei Mal musste sie Anlauf nehmen, dann hatte sie es geschafft.
Die Dunkelheit hielt das Land noch nicht völlig unter Kontrolle, aber sie hatte bereits ihre Schatten geschickt, und so breitete sich das düstere Flair immer weiter aus.
Es war kühl, schon kalt. Alexandra fror etwas. Ihre Brille beschlug.
Sie setzte sie ab, zwinkerte ein wenig, dann schaute sie wieder nach draußen und suchte die Lichter irgendwelcher Ortschaften, die sich recht spärlich auf dieser Halbinsel verteilten.
Es gab sie nicht. Sie sah einige helle Stellen in einem gewissen Umkreis, das war auch alles. Hier kam sie sich vor wie auf einer Insel oder wie von der normalen Welt verlassen.
Unter ihr breitete sich der Garten aus. Wobei sie nicht erkannte, was zu ihm gehörte oder was freies Gelände war. Da verliefen die Grenzen fließend.
Der Wind war kalt. Wie ein böser Geist fuhr er in ihr Gesicht.
Er kam aus dem Dunkel und brachte den Geruch von Salzwasser mit.
Das war wirklich keine Zeit, um auf die Reise zu gehen, aber Alexandra hatte es nicht anders gewollt.
Eine Heizung gab es im Zimmer nicht, auch keinen Ofen. Sie schloss das Fenster wieder und drehte sich um. Nachdenklich nagte sie an der Unterlippe. So hatte sie sich den Fortlauf des Tages nicht vorgestellt.
Wenn sie sich nicht bewegte, dann war es im Raum still wie in einem Grab. Sie hörte nichts. Keine Stimme, kein Geräusch aus der unteren Etage, und so empfand sie die Ruhe wie einen unheimlichen Druck. Es kam ihr sogar in den Sinn, eine Gefangene zu sein. Jetzt war sie sogar froh, Gesellschaft zu bekommen. Denn früh einschlafen würde sie nicht können. Dazu war sie viel zu aufgeregt.
Sie wollte die Tür nicht geschlossen lassen. Wenn sie offen stand, dann hatte sie zumindest den Eindruck verdrängt, sich in einer Zelle aufzuhalten. Es war wirklich besser, freie Bahn zu haben, wenn sie denn das Zimmer schnell verlassen musste.
Schon beim Öffnen hatte sie gehört, dass die Tür nicht knarrte oder über den Boden schabte. Beinahe lautlos schwang sie auf, und das wiederholte sich jetzt. Auf der Schwelle blieb sie stehen, schaute in einen verlassenen Gang hinein und hätte eigentlich froh sein müssen, allein zu sein.
Das Gefühl wollte einfach nicht kommen. Auf ihrem Rücken blieb die Gänsehaut bestehen wie festgeleimt. Sie fürchtete sich plötzlich vor der Leere und auch vor der dunklen Decke, die nicht sehr hoch über ihrem Kopf entlanglief.
Dann hörte sie das Geräusch! Augenblicklich erstarrte Alexandra. Es war nicht in ihrer Nähe aufgeklungen. Es war schwach, sie musste sich konzentrieren und hatte sehr bald das Glück, die Quelle herauszufinden.
Ein Stockwerk tiefer war jemand unterwegs. Die Schritte brachten nur ein dünnes Echo, nicht aber die Stimme.
Stimme? Nein, das war nicht nur eine Stimme. Sie hörte noch eine zweite, womöglich sogar eine dritte, und sie vernahm auch das leise, aber heftige Kichern.
Danach hörte sie den dumpfen Laut auf der Treppe und noch in der gleichen Sekunde einen halblaut gesprochenen Befehl, den Kalina gesprochen hatte.
»Nicht. Bleib weg!«
Stille.
Nach einigen Sekunden vernahm sie wieder das Wispern. Es war nicht zu verstehen, was da unten gesprochen wurde.
Zudem waren die Stimmen auch sehr schnell wieder verstummt, und Alexandra stand wieder allein in der Stille.
Sie zog sich zurück, schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken von innen dagegen. Es gab noch jemand im Haus.
Vielleicht waren es sogar zwei Personen. Warum hatte Kalina ihr das verheimlicht? Welchen Grund konnte es dafür geben? Was führte sie im Schilde? Nichts Gutes, das stand für die Deutsche fest. Auf einmal hatte sie das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein.
Wenn das stimmte, wusste sie nicht, wie sie sich daraus befreien sollte. Sie konnte nicht einfach verschwinden und wegrennen. Das hätte Kalina ihr nie erlaubt. Dafür sah sie diese Person an.
Wer war dort unten? Wen hielt sie versteckt? Andere Gäste vielleicht?
Sie würde Kalina danach fragen.
Alexandra ging wieder zum Bett. Sie zog ihre Jacke aus und legte sie auf das Kopfkissen.
Da wurden
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