1209 - Die Pest-Gitarre
weiterhelfen konnte. Jemand musste hier das Sagen haben, aber zunächst kümmerte sich keiner um uns.
»Es kommt noch so weit, dass wir die Wagen einzeln durchsuchen müssen«, sagte Bill.
»Kann sein.«
Ein junger Bursche, der eine Zigarette rauchte, wollte an uns vorbei.
Bill hielt ihn an der Schulter fest. »He, ich habe mal eine Frage.«
Ein Fluch wurde ihm zusammen mit Speicheltropfen ins Gesicht geschleudert, dann war der Knabe weg. Dafür öffnete sich rechts von uns die Tür eines Wohnmobils. Ein hochgewachsener Mann um die verließ den Wagen. Er hatte pechschwarzes Haar und eine gewaltige Hakennase über dem Oberlippenbart.
»Ob das der Chef ist?«, fragte Bill.
»Werden wir gleich haben.« Der Mann kam direkt auf uns zu und blieb in kurzer Distanz stehen, um uns zur Begrüßung zuzunicken. »Polizei?«, fragte er dann.
»Ja«, sagte ich.
»Ich dachte es mir. Tut mir leid, aber wir haben nichts zu verbergen. Wenn Sie Papiere sehen wollen, ich kann Ihnen alles zeigen, Mister…«
»Mein Name ist John Sinclair. Aber es geht uns nicht um Sie und Ihre Leute.«
Der Mann blickte zweifelnd. »Soll ich das glauben?«
»Es ist die Wahrheit.«
»Sie müssen mein Misstrauen verstehen. Bisher wollte man uns immer etwas anhängen.«
»Es geht uns um einen jungen Mann, der Pee heißt. Er gehört nicht zu Ihnen. Pee ist Musiker. Ihn suchen wir. Es könnte sein, dass er sich hier aufhält.«
»Das weiß ich nicht.«
Log er? Log er nicht? Seinem Gesichtsausdruck entnahmen wir nicht, ob er die Wahrheit gesagt hatte.
»Da wir leider kein Foto von ihm besitzen, werden wir ihn beschreiben«, fuhr ich fort. Ich wollte schon damit beginnen, aber Alex Steel war schneller. Er hatte seine Scheu überwunden, und es sprudelte nur so aus ihm hervor.
Der Mann mit den schwarzen Haaren hörte zu. Er sagte nichts, zeigte sich konzentriert und hob die Schultern, was nicht eben auf eine positive Antwort hindeutete.
»Es kann sein, dass ich ihn hier schon gesehen habe. Sicher bin ich nicht. Wir leben ja nicht ohne Kontakt. Hin und wieder kommen Bekannte oder Freunde zu uns. Ich kann auch nicht jeden kennen, der mit einem von uns bekannt ist…«
»Warum zeigen Sie sich so verstockt?«, fragte Bill. »Es geht nicht gegen Sie und Ihre Gruppe. Wir suchen ihn nicht zum Spaß. Er ist gefährlich, und ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass Sie ihn trotzdem kennen. Wenn Sie uns nicht weiterhelfen können oder wollen, werden wir jeden Wagen hier durchsuchen lassen. Ich weiß nicht, ob es das ist, was Sie wollen.«
Der Mann mit der Hakennase überlegte. Er kam auch zu keinem Ergebnis. »Gut, ich will mich nicht in die Nesseln setzen. Da ist es vielleicht besser, wenn Sie mit unserem Clanchef sprechen. Er heißt Bogdan. Wenn Ihnen jemand helfen kann, dann sicherlich er.«
»Sehr schön«, sagte Bill. »Und in welchem Wagen finden wir ihn?«
Der Schwarzhaarige drehte sich um. Er schaute nun in die Richtung, in die wir auch blicken. »Der Wagen, der ein wenig versetzt steht und…«
Da öffnete sich die Tür.
Es konnte Zufall, Fügung oder Schicksal sein, wir wussten es nicht.
Jedenfalls erschien in der offenen Tür genau der Mann, den wir suchten.
Wir sahen ihn, und er sah uns.
Sofort wusste er Bescheid. Blitzschnell fuhr er herum und verschwand im Wagen.
»Pee, verdammt!«, schrie Alex Steel und rannte los…
***
Bogdan war aufgesprungen, als Pee wieder in den Wohnwagen hineingestürmt kam. Er hatte auch die Drohung gehört, die der Musiker augenblicklich in die Tat umsetzte.
Er fing an zu spielen.
Seine Finger glitten mit den Kuppen über die Saiten. Plötzlich wurde die Stille im Wagen von der Melodienfolge zerstört, die sehr bald in disharmonische Klänge überging.
Pee schlug und spielte.
Er war wie von Sinnen. Leicht nach vorn gebeugt stand er vor dem Tisch. Er schaute darüber hinweg und bohrte seinen Blick in die Augen des weißhaarigen Mannes, der sich gegen die Rückenlehne gedrückt und die Hände erhoben hatte.
In seinen Augen leuchtete die Angst. Er jammerte und krümmte sich, während sich um ihn herum die Umgebung veränderte, denn Pees Spiel auf der Gitarre lockte die Geister.
Sie, die sich normalerweise im Totenreich verborgen hielten, schafften es, die Grenzen einzureißen. Geister der Vergangenheit, feinstoffliche Körper der Pesttoten, noch mal hervorgeholt.
Gestalten, langgezogen, mit abstrus verzerrten Gesichtern.
Körperlos und trotzdem sichtbar. Männer und Frauen wehten gemeinsam wie
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