1220 - Gefangen im Hexenloch
musste einfach Elvira sein, die plötzlich aus diesem geisterhaften Licht erschienen war. Das war verrückt, er wusste es selbst. Normal auch nicht erklärbar, aber Harry Stahl arbeitete auf einem Feld, wo das Unnormale zur Normalität gehörte.
Wie auch hier.
Kein Licht mehr, dafür stand eine Frau vor ihm, die kleiner war als er, und trotzdem nicht als eine Hutzelfrau bezeichnet werden konnte, weil sie eben nicht dem klassischen Bild der Märchenhexe entsprach, die man aus dem Märchen kannte. Sie besaß weder einen Buckel, noch eine krumme Nase, und auf ihrer Schulter hockte auch kein schwarzer Kolkrabe. Vom Aussehen her wirkte sie irgendwie alterslos, aber jung war sie nicht mehr. Das blondgraue Haar umwuchs den schmalen Kopf wie Stroh. Im Gesicht blinkten die Augen rechts und links über einer schmalen, etwas zu langen Nase. Die rechte Wange war etwas eingefallen. Der Mund saß leicht schief im Gesicht. Was möglicherweise auch durch das Grinsen zu erklären war, das sie Harry schickte.
Sie trug ein Kleid bis zu den Füßen. Die Ärmel waren an den Enden weit geschnitten, und aus ihnen schauten Hände hervor, die recht lange Finger besaßen.
Obwohl es dunkel war, sah Harry die Einzelheiten. Er hatte das Gefühl, dass diese Person von innen her glühte und das Licht dort eine Heimat gefunden hatte.
Es war still zwischen den beiden. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Natürlich lagen Harry die Fragen auf der Zunge, doch er hielt sie noch zurück.
Hexen kichern. So hatte er es gelernt oder auch gehört. Und das passierte wieder. Sie kicherte plötzlich und öffnete dabei ihren Mund. »Du wolltest zu mir, nicht?«, fragte sie plötzlich.
Harry war vom Klang ihrer Stimme irritiert. Noch nie zuvor hatte er eine Person sprechen gehört, deren Stimme so krächzend geklungen hatte. Da wirkte jedes Wort wie von einer leicht schrillen Musik unterlegt.
Harry schwieg.
»Warum sagst du nichts? Kannst du nicht sprechen? Hat dir die Angst die Kehle zugeschnürt?«
»Also gut«, flüsterte er und nickte dabei. »Dann werde ich dir eine Frage stellen.«
»Ich bitte darum.«
»Bist du Elvira?«
»Ja, ja!«, erwiderte sie fast jubelnd, »ich bin Elvira. Ich bin die, die hier lebt. Ich bin es, ich bin die Hexe!«
»Aus dem Hexenloch!«
»Ja.«
»Und das gab es auch damals?«
Sie nickte heftig. »Es ist so alt, und die Menschen haben sich immer davor gefürchtet. Das Hexenloch ist etwas ganz Besonderes. Hier habe ich mein wunderbares Leben gelebt und lebe es noch immer. Es macht mir Spaß, die Menschen zu erschrecken. Sie reden noch immer über mich, obwohl ich schon lange Jahre nicht me hr bin. Aber ich bin trotzdem noch vorhanden, das wissen nur jene, die Zeichen lesen können. Und manchmal mache ich mich sehr wohl bemerkbar.«
»Wie bei den Helms - oder?«
Sie klatschte in die Hände. »Ja, die Helms!«, flüsterte sie scharf. »Vater, Mutter, Kinder. Eine Familie…«, sie ließ das Wort ausklingen, legte dann den Kopf zurück und begann schallend zu lachen. »Das habe ich gebraucht. Ich will sie haben, verstehst du? Und jetzt habe ich sie bekommen.«
»Leben Sie noch?«
»Hast du den Jungen nicht gesehen?«
»Schon. Aber ich meine die anderen?«
»Ja, sie leben. Sie leben noch. Aber nicht mehr lange. Dann werde ich das tun, was man von einer Hexe erwartet, denn ich will, dass die Märchen wahr werden.«
Über Harrys Rücken floss wieder dieser kalte Strom aus Crash-Eis. »Moment mal«, sagte er mit leiser Stimme, »muss ich darunter verstehen, dass du sie in den Ofen schieben willst?«
Elvira legte den Kopf schief. »Gehört das nicht dazu? Hat man es nicht so aufgeschrieben? Wer weiß, vielleicht sind die Gebrüder Grimm sogar hier durch das Hexenloch gekommen und haben sich von den Wäldlern die alten Geschichten erzählen lassen. Denn ich bin die Angst, und ich mache auch die Angst.«
Es war seltsam, aber Harry glaubte ihr. Er glaubte ihr leider, und das wiederum ärgerte ihn. Sie war eine Person, die Angst einjagen konnte, und sie brachte die Angst. Sie ließ die Menschen leiden, um sie später auf schreckliche Art und Weise zu töten. Einfach in den Backofen schieben…
Elvira sah, dass Harry überlegte. Sie legte den Kopf schief und fragte: »Was denkst du jetzt?«
»Das herauszufinden, ist wohl nicht schwer. Ich denke über das Schicksal der Helms nach.«
»Glaubst du mir nicht, dass sie noch am Leben sind?«
»Sascha habe ich gesehen.«
»Sehr gut.«
»Zeig mir die anderen!«
Elvira
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