1224 - Das Herz der Hexe
weg von dem ausgetrockneten Kanalbett, in dem der harte Schlamm an der Oberfläche schon breite Risse gebildet hatte.
Dort befand sich die Quelle des geheimnisvollen Lichts.
Bisher hatte sich Amy noch nicht darum gekümmert, weil sie von den anderen Dingen zu stark abgelenkt worden war, doch nun, als sie hinschaute, zog sich ihr Körper zusammen, so sehr hatte sie der Anblick erschreckt.
Amy starrte auf einen übergroßen Totenschädel, der halb in der Erde vergraben lag. Es war kein normaler Schädel, nicht von der Größe her und auch nicht von seinem Aussehen. Sie konnte sich auch schlecht vorstellen, dass er aus Knochen oder Gebein bestand, denn von ihm strahlte das Licht ab.
Das Leuchten hatte den Totenschädel erfasst wie eine Glühlampe. Es drang aus den großen Augenhöhlen hervor. Ebenso aus dem Maul und aus den Löchern der Nase. Es war eigentlich überall vorhanden. Selbst durch die feinen Poren des Gebeins bahnte es sich seinen Weg.
Erst beim zweiten Blick stellte sie fest, dass der übergroße Schädel noch eine Besonderheit aufwies. Er bestand nicht aus Knochen, sondern aus Metall. Aus einem sehr wertvollen Metall, denn dieser riesige Totenkopf schimmerte golden, obwohl er zugleich auch das andere geheimnisvolle Licht abstrahlte.
Amy war nicht mehr in der Lage, einen Kommentar abzugeben. Der Schreck und auch die Überraschung hatten sie stumm werden lassen, und sie hörte hinter sich ein leises Lachen. In das Geräusch hinein klangen die Schritte der Hexe, die sich an Amy vorbeischob und auf den übergroßen Schädel zuging. Für die Dauer einiger Sekunden blieb sie daneben stehen und schaute auf ihn herab.
Xenia Wheeler wirkte wie im Gebet versunken oder in Ehrfurcht erstarrt. Allein ihre Haltung drückte aus, dass ihr Schicksal eng mit dem des Totenschädels verbunden war, denn ihr Körper hatte das gleiche Licht angenommen. Nicht so intensiv wie das des Schädels, aber es hatte doch einen Schleier auf ihrer Haut hinterlassen.
Die Hexe gab kein Wort von sich, als sie noch näher an den Totenkopf herantrat, sich dann in die Knie sinken ließ und den Kopf nach links drehte, damit sie den Schädel anschauen konnte. Der Blick gab die Ehrfurcht und den Respekt wieder, den Xenia für diesen Schädel empfand.
Beinahe schon verzweifelt dachte Amy darüber nach, in welch einer Verbindung Xenia zu diesem Schädel stand. Für Amy war es ein Relikt aus den dunklen Tiefen des Graue ns, die auch als Hölle umschrieben werden konnte.
Xenia atmete nicht, sie keuchte, als sie ihre Arme vorstreckte und die Hände für einen Moment über den glatten Schädel schweben ließ. Auf das, was nun folgte, musste sie sich erst vorbereiten, und sie führte es mit der nötigen Inbrunst durch.
Langsam sanken ihre Hände nach unten. Behutsam legten sie sich auf den blanken Schädel und fingen an, ihn zu streicheln.
Es musste für sie ein wahnsinniges Gefühl sein, denn über ihre Lippen drangen stöhnende Laute, als läge sie mit einem Mann im Bett, um es mit ihm zu treiben.
Sie beugte sich noch tiefer. Sie küsste den Schädel, sie glitt mit ihrem fast nackten Körper über ihn hinweg, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Entzückens.
Noch immer bewegte sie ihren Körper vor und zurück. Sie drehte ihn dabei, und die zuschauende Amy bekam den Eindruck, dass Licht aus dem Totenschädel auch in den Körper der Hexe hineinfloss. Der Schädel hatte Xenia den Geliebten ersetzt. Sie spielte mit ihm, sie küsste ihn, und schob sich ganz über ihn hinweg, wobei sie immer wieder kleine, spitze Schreie ausstieß.
Schließlich rollte sie sich auf der hinteren Seite des übergroßen Totenkopfs zusammen, winkelte die Beine an und blieb im Lotussitz hocken, den Blick auf Amy gerichtet.
Die fühlte sich leer. So sehr sie sich der Person auch verbunden gefühlt hatte, im Moment kam sie nicht weiter. Sie hörte das fremde Herz in sich schlagen, und in ihren Augen stand eine stumme Frage.
Xenia strich ihre Haarmähne zurück, und nickte Amy zu.
»Jetzt hast du alles gesehen«, flüsterte sie. »Ja, das habe ich.«
»Und? Was hast du gesehen?« Amy zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er ist so groß. Ich habe noch nie einen so großen Schädel gesehen. Wer ist er? Woher stammt er?«
Xenia lächelte wissend. »Nicht aus dieser Welt«, antwortete sie. »Auch nicht von dieser Welt. Er ist uralt, aber er ist zugleich auch ein Rest, der zurückgelassen
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