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1227 - Verschollen im Mittelalter

1227 - Verschollen im Mittelalter

Titel: 1227 - Verschollen im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Smith
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weiß? Dazu brauche ich keine Augen, mein Sohn«, antwortete der Alte. »Die Führer unserer Welt haben es von jeher vorgezogen, ihre Fehden anderen aufzubürden, die selten Fragen stellen. Sie selbst waschen ihre Hände in Unschuld, während ihre Krieger in die Schlacht ziehen – im Namen Gottes oder zu Ehren eines seiner Stellvertreter auf Erden.«
    Der Blinde lehnte sich zurück und schwieg. Erst jetzt bemerkte Nelson, dass er nicht allein war. Ein vor Dreck starrendes Mädchen beugte sich zu dem Alten herüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin verzog der Alte seinen Mund zu einem Lächeln und schüttelte langsam den Kopf. Der Blick des Mädchens wanderte von Judith zu Nelson und wieder zurück zu Judith, die das Mädchen schließlich ihrerseits fixierte, bis es verschämt zur Seite sah.
    Während die Schlacht zu ihren Füßen weitertobte, ohne dass eine Seite einen Vorteil zu erringen schien, spürte Nelson die Gegenwart des Blinden in seinem Rücken auf eine beinahe schmerzhafte Weise. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass der Alte dem Gespräch zwischen ihm und Judith gefolgt war. Aber das bedeutete, dass er sie verstanden hatte. Und das, obwohl ihm die Sprache, in der sie sich unterhalten hatten, eigentlich hätte fremd sein müssen. Schließlich flüsterten sie miteinander nicht Mittelhochdeutsch oder Latein, sondern das Deutsch ihrer eigenen Zeit. Vielleicht hatte er den Sinn ihrer Worte intuitiv erfasst? Aus dem, was er sagte, sprach Weisheit. Er erinnerte Nelson auf verblüffende Weise an jenen blinden Seher, über den er einmal in einem Buch gelesen hatte. Aber der hatte zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort gelebt. Wenn es ihn denn überhaupt jemals gegeben hatte. Der Blinde hinter ihm dagegen war so wirklich wie der erbitterte Kampf, der sich zu ihren Füßen abspielte.
    Als ob der Alte Nelsons Gedanken gelesen hätte, beugte er sich wieder zu den beiden Freunden vor. »Ich will euch meinen Namen nicht schuldig bleiben«, sagte er. »Man kennt mich als Severin von Antiochia, wenngleich diese Perle des Orients nie meine wahre Heimat gewesen ist, sondern nur einer jener vielen Orte auf Erden, die zu sehen mir in meinem langen Leben vergönnt war.«
    Wieder stieg Nelson der faulig-süßliche Geruch in die Nase. Auch Judith schluckte. »Wer hat dir das angetan?«, fragte sie mit einem Blick auf den blutigen Verband.
    »Dieselben, die vorgeben den Allmächtigen zu preisen, mein Kind«, antwortete Severin ohne Bitterkeit in der Stimme. »Dieselben, die dort unten auf dem Schlachtfeld um die Vorherrschaft im Himmel und auf Erden streiten. Dieselben, die glauben, wenn sie einen Menschen seines Augenlichts oder seiner Stimme berauben, auch die Bilder und Gedanken auszulöschen, die ihn prägen. Sie sind so töricht wie gefährlich, ist doch die Dummheit das wahre Kreuz, das zu jederzeit und überall den Frieden auf Erden bedroht.«
    Nelson sann über die Worte des Weisen nach, wobei ihm unwillkürlich die jüngsten Kriege und Konflikte ihres eigenen Jahrhunderts einfielen.
    »Ihr seid jung an Jahren, das verraten mir eure Stimmen. Aber aus euren Worten, so scheint mir, spricht die Reife des Alters«, bemerkte der Alte. »Sagt, woher kommt ihr?«
    Nelson und Judith wechselten einen schnellen Blick, der dem Mädchen an der Seite des Alten nicht entging. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wiederholte Nelson, woher sie angeblich kamen und wer sie vorgaben zu sein.
    »Angelsachsen seid ihr, soso«, murmelte der Alte und nickte bedächtig. »Franziskaner gar. Ich hätte schwören können…« Unvermittelt brach er ab und wechselte das Thema. »Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis die Schlacht vorbei ist und der Tjost beginnt.«
    Nelson sah hinunter zum Platz und erkannte, dass sich die Reihen der Kaisertreuen in den vergangenen Minuten deutlich gelichtet hatten. Die zähesten unter ihnen kämpften tapfer vom Boden aus weiter, während ihre Rösser herrenlos über den Platz irrten und von den Knappen eingefangen werden mussten. Es dauerte nicht lange, bis sich auch der letzte Ritter mit Löwenschild den Papstanhängern ergab, woraufhin eine Fanfare erklang, die das Ende des Kampfes verkündete.
    Die Ritter des siegreichen Heeres trabten müde zur Tribüne um den Lohn ihrer Mühen zu empfangen: ein prächtiges Schwert mit Edelsteinbesatz, das der Anführer aus der Hand des päpstlichen Legaten entgegennahm. Nelson entging nicht, mit welcher Genugtuung der Greis die Siegerehrung vornahm, wobei

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