1227 - Verschollen im Mittelalter
ein küchenmessergroßer Lanzensplitter aus der rechten Schulter ragte. Er schwankte wie eine auf ein Kamel gebundene Puppe – ein entsetzlicher Anblick, der nicht nur die Zuschauer zu lähmen schien, sondern auch Adomats Knappen und Helfer, die quälend lange brauchten, bis sie endlich bei dem Verletzten anlangten und ihn behutsam vom Pferd zogen.
Nelson sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dass es sich bei diesem Turnier keineswegs um eine unterhaltsame Show handelte, bei der ritterliche Tugenden und Waffenkunst bestaunt werden konnten, so hatte ihn Sir Brian Lancaster gerade auf grausame Weise geliefert.
Während Adomat auf einer Bahre vom Platz getragen wurde, richteten sich die Blicke auf den schändlichen Sieger. Dieser hatte sich seines Helms entledigt und von seinem Knappen eine neue Lanze in Empfang genommen. Sein Gesicht ließ keine Regung erkennen. Lässig trabte er zur Ehrenloge und verbeugte sich dort vor einer blassen Edeldame mittleren Alters, die ihm ein schwarzes Band an die Lanze knüpfte. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Augen, als er mit seiner Trophäe forttrabte, wobei er sich mehrmals durch seine langen blonden Haare fuhr – eine Geste, die Nelson von jenen Schönlingen kannte, die sich selbst unwiderstehlich fanden und ihre echte Wirkung auf andere hartnäckig ignorierten.
Die beiden nächsten Zweikämpfe wurden zum Glück unblutig entschieden. Gilbert von Lichtenstein, ein hünenhafter Ritter mit lustigem Federschmuck auf dem Helm, machte mit seinem Gegner kurzen Prozess. Ein einziger Hieb genügte und der arme Tropf flog in hohem Bogen vom Pferd. Trotzdem, so versicherte Tadeus mit Glanz in den winzigen Äuglein, sei der Geschlagene, Walter von Thun mit Namen, ein durchaus ehrenwerter Ritter, der sich während des dritten Kreuzzuges gar prächtig geschlagen habe.
Bei Miguel de Burgos dauerte es deutlich länger, bis er seinen Kontrahenten, den hochgewachsenen Johann von Leuven, in die Knie gezwungen hatte. Während des Kampfs mit der Lanze und dann mit dem Morgenstern ging der auffallend kleine Spanier kein Risiko ein. Als es schließlich zum Schwertkampf kam, setzte er auf seine Ausdauer, tänzelte um seinen Gegner herum, wich dessen Streichen immer wieder geschickt aus und landete selbst einige wirkungslose Treffer, die anscheinend nur den Zweck verfolgten, Johann weiter anzustacheln und aus der Reserve zu locken. Miguels Taktik ging auf. Irgendwann wurde sein Gegner müde und konnte kaum noch den Schild, geschweige denn sein Schwert halten. Erst jetzt drehte der zähe Spanier auf. Mit erstaunlicher Wucht und Präzision schlug er seinem Gegner, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte, die Breitseite seines Schwerts um die Ohren, bis dieser in die Knie ging und mit seinem Bezwinger endlich auf Augenhöhe war, was diesem möglicherweise die eigentliche Genugtuung bescherte.
Damit waren schon vier tapfere Ritter geschlagen und Nelson wusste, wer als Nächstes die Bühne betreten würde.
Unter dem frenetischen Jubel der Zuschauer galoppierte der blaue Reiter in die Arena, packte ohne hinzusehen die von seinem Knappen bereitgehaltene Lanze und zeigte sich schon kampfbereit, als sein Gegner, der ehrenwerte Guy de Clermont-Ferrand, noch damit beschäftigt war, seinen kunstvoll verzierten Schnabelhelm so behutsam über den Kopf zu ziehen, dass seine ondulierten Locken keinen Schaden nahmen.
Aufreizend lässig wies er sodann seinen bunt drapierten Pagen an, ihm eine Auswahl ausgesuchter Lanzen darzubieten, die von Nelsons Platz aus zwar alle gleich aussahen, für Guy jedoch offensichtlich so gravierende Unterschiede aufwiesen, dass er eine Ewigkeit benötigte um die richtige zu wählen. Anschließend konnte man hören, wie er seinem Pagen befahl, den rot-blau-weiß karierten Überwurf seines Pferdes glatt zu streichen und dessen Kopfschmuck, bestehend aus drei buschigen Federn in denselben Farben, akkurat auszurichten, sodass das Schlachtross am Ende eher einem Zirkuspferd glich.
Endlich stolzierten Pferd und Reiter los, um sich dem völlig reglos ausharrenden Ritter am anderen Ende der Bahn zu stellen. Der kurze Weg zu seinem Ausgangspunkt indes bot Guy noch reichlich Zeit, verschwenderisch ins Publikum zu grüßen, wobei er dessen Unmutsbekundungen geflissentlich überhörte.
Nelson beschlich plötzlich eine dunkle Ahnung, dass Guy de Clermont-Ferrand in Wirklichkeit keineswegs jener geckenhafte Beau war, für den
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