1227 - Verschollen im Mittelalter
Nelson keinen Augenblick –, dann brütete ihr Feind in diesem Moment wahrscheinlich einen Plan aus, wie er ihnen heimzahlen konnte, dass sie ihn vor aller Welt gedemütigt hatten.
Nelson hielt Ausschau nach Severin, den er jetzt gern bei sich gehabt hätte. Der Blinde hatte ihnen zwar versichert, dass der Burgfrieden drei volle Tage und Nächte währte – aber galt er auch für einen Ketzer? In den Augen der Eiferer war einer wie Luk, der die ewige Herrschaft der christlichen Kirche öffentlich in Frage gestellt hatte, gefährlich, kratzte er doch am Fundament, auf dem ihre eigene Macht seit Jahrhunderten ruhte. Sie würden ihn als Gotteslästerer hinstellen, und wie man in diesen dunklen Zeiten mit Gotteslästerern verfuhr, hatte ihnen Professor van der Saale eine volle Unterrichtsstunde lang bis in die grausamsten Details erläutert.
Immerhin, so versuchte sich Nelson selbst zu beruhigen, war von der Garde des Inquisitors weit und breit nichts zu sehen. Vorerst waren sie wohl sicher. Während der Kämpfe würde niemand wagen einen Aufruhr anzuzetteln. Schließlich könnte dies den Zorn des Burgherrn und seiner hohen Gäste erregen. Und am Abend, so hoffte Nelson, würden sie sich mit Levent aus dem Staub machen: in eine sichere Zukunft, die ihre eigentliche Gegenwart war.
Inzwischen hatten sie den Turnierplatz erreicht. Die Ränge waren schon zur Hälfte besetzt, obwohl noch reichlich Zeit blieb, bis das Finale beginnen sollte.
Nelson beobachtete, wie sich die Knollennase suchend in der Menge umsah. Doch seine Jungfrau war noch nicht eingetroffen.
»Nun, Bruder«, neckte ihn Luk. »Wir sind gespannt…«
»Sie wird kommen«, knurrte Tadeus und zwängte seinen massigen Körper in eine der mittleren Reihen, wo noch einige Sitze frei waren. Die Freunde folgten ihm. Nelson hätte sich viel lieber zu Severin und Adiva gesellt, die er gleich bei ihrem Eintreffen in der obersten Reihe entdeckt hatte. Doch sie hatten verabredet, kein Risiko einzugehen und sich erst im Anschluss an das Turnier im Kräutergarten wiederzutreffen – vorausgesetzt, dass alles nach Plan lief.
Ungeduldig beobachtete Nelson, wie sich der Platz nach und nach mit Menschen füllte. Schon bald waren alle Sitze bis auf die Ehrenlogen belegt. Die später eintreffenden Zuschauer kauerten sich an den Stirnseiten der Arena ins Gras, wo sie nur noch einen schmalen Durchgang für die Ritter freiließen. Nelsons Unruhe wuchs sekündlich: Wo, um Himmels willen, blieben Judith und Schwester Clothilde?
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Einzelne Zuschauer sprangen auf und reckten die Hälse. Im ersten Augenblick glaubte Nelson, der Fürst und sein Gefolge seien im Anmarsch. Doch als ihn Tadeus heftig in die Rippen stieß und aufgeregt zur Seite deutete, traf ihn der Schlag: Es war Judith und neben ihr schritt – der blaue Reiter!
Das Gemurmel erstarb und eine unheimliche Stille senkte sich über den Platz. Atemlos beobachtete Nelson, wie der in einen kobaltblauen Umhang gehüllte Ritter seine Angebetete, deren Hand anmutig auf seinem Arm ruhte, an den oberen Rängen vorbei hinabführte. In einigem Abstand folgte Schwester Clothilde, die fast ebenso viele Blicke auf sich zog wie das Paar, das sie begleitete. Unten angekommen beugte der Ritter sein durch eine weite Kapuze verhülltes Haupt zu Judith, die ihm etwas zuraunte. Der Ritter nickte langsam. Dann geleitete er Judith zur Mitte der ersten Reihe, wo die Zuschauer ohne Aufforderung zusammenrückten, um der Jungfrau und ihrer frommen Anstandsdame Platz zu machen. Der geheimnisvolle Ritter küsste Judiths Hand und schritt dann ohne sich umzudrehen über den Platz zu den Zelten, zwischen denen er bald verschwand.
Abrupt setzte das Stimmengewirr wieder ein. Bruder Knollennase beugte sich zu Nelson und grinste ihn triumphierend an. »Was sagt ihr nun, ihr Ungläubigen!«, rief er mit donnernder Stimme. »Tuet Buße an Bruder Tadeus, dessen Geister noch alle beisammen sind, wie ihr nun hoffentlich erkennt!«
Nelson verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Im Grunde unseres Herzens…«, begann er, doch sein gewichtiger Sitznachbar wischte den Rest unwirsch beiseite. »Ich nehme eure Entschuldigung an«, brummte er versöhnt. »Bruder Tadeus ist nicht nachtragender als der Herr, dem er dient.« Dann runzelte er mit einem Mal die Stirn und sah die Freunde an, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Aber sagt, wo ist eigentlich Bruder Ignatio abgeblieben?«
Nelson schluckte. Auf
Weitere Kostenlose Bücher