1231 - Im Würgegriff des Grauens
nimmt ihnen die Ängste und…«
»Nein!«, sprach ich dazwischen. »Er nimmt ihnen nicht die Ängste, sondern die Träume. Das ist schlimm. Menschen, die nicht träumen können, leiden. Sie werden irgendwann keinen Ausweg mehr aus ihrem Dilemma finden. Es ist dann vorbei mit ihnen, und sie werden in ihrer eigenen Qual ersticken.«
»Es ist nicht meine Sache, dies zu beurteilen. Aber ich stehe auf seiner Seite.«
»Ich nicht!«
Auf die Antwort war ich gespannt und musste länger warten, bis er sie mir sagte. »Wir haben doch so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen, John Sinclair. Willst du ihn in Gefahr bringen?«
»Nein, aber ich will Menschen retten. Ich will nicht, dass es noch mehr Tote gibt. Hast du verstanden? Keine Toten. Ich bin jemand, der auf der anderen Seite steht. Ich will Barker. Er mag ein Genie sein, aber er ist auch ein Verbrecher.«
»Du wirst es nicht schaffen, ihn zu töten!«
»Weil du ihn beschützt?«
»Ja.«
»Und das Gesicht, das ich sehe?«
»Es gehört ihm. Es ist sein Albtraum. Es ist die Leere, gezeichnet durch die Schwärze, und sein Äußeres ist nur eine Hülle. Nicht mehr und nicht weniger. Jeder Mensch geht ein in die Schwärze und…«
»Nein, nicht jeder gerät in dein Reich. Du fängst nur die Seelen der vernichteten Dämonen auf. Und da habe ich schon für einigen Nachschub gesorgt.«
»Barker ist kein Dämon.«
»Das weiß ich. Er ist ein Verbrecher. Ich wiederhole mich. Er ist ein Traumdieb. Er raubt den Menschen die Träume und treibt sie in die Verzweiflung. Dass er dich als Stütze hat, das hätte ich nicht gedacht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du dich in die Belange der Menschen einmischt, wo du in deiner Ebene genügend Probleme hast, denn der große Sieg ist dir auch jetzt noch nicht gelungen. Du hast viel erzählt, aber wenig gesagt. Nur kann ich nicht aus meiner Haut. Ich werde Barnabas Barker bekämpfen.«
»Das weiß ich.«
»Gut. Dann will ich dich fragen, ob du auch jetzt noch zu ihm hältst.« Es war eine Suggestivfrage, und ich rechnete auch nicht mit einer konkreten Antwort.
Wieder schwang die Stimme durch den gekachelten Raum.
»Es wird die Zeit kommen, in der ich mich wieder melde, John Sinclair. Denk immer daran, dass er den Weg zu mir gesucht und ihn auch gefunden hat. Ich will Seelen, er will Träume. Und irgendwo werden sich beide treffen. Da gibt es einen Schnittpunkt…«
Für ihn war die Unterhaltung beendet, das wusste ich. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, es mit dem Kreuz zu versuchen.
Dagegen zeigte sich der Spuk immun, denn ich hatte schon erlebt, wie er das Kreuz zu seinen Gunsten manipulierte und es seinen silbernen Schimmer und damit auch die Kraft verloren hatte.
Der Spuk zog sich zurück. Die Schwärze verlor an Dichte, sodass ein anderer Farbton die Oberhand gewann. Es war ein dunkles Grau, das ebenfalls nicht blieb, aber weit im Hintergrund des Spiegels entdeckte ich plötzlich die beiden roten Punkte. Diese Augen, die ich schon oft in der Schwärze gesehen hatte, und die so etwas wie ein Markenzeichen des Spuks waren. Es schien, als wollte er mir noch beweisen, dass er es auch wirklich gewesen war.
Hinter mir hörte ich ein Geräusch. Es war das Atmen eines Menschen, aber ich drehte mich nicht um, weil ich auch so wusste, dass es nur Suko sein konnte, der es weiter vorn nicht mehr ausgehalten hatte.
Im Spiegel blieb das graue Totengesicht zurück. Es war bisher immer starr gewesen, in diesem Moment allerdings hatte ich den Eindruck, dass es lachen oder grinsen würde.
Ich war versucht, mein Kreuz zu nehmen und das Metall gegen den Spiegel zu wuchten. Ich hätte auch die Waffe ziehen und in die Fläche schießen können, aber ich ließ es bleiben. Zu ungestüm vorzugehen, konnte bedeuten, dass ich alles vernichtete. Das Risiko konnte und wollte ich auf keinen Fall eingehen. Denn es ging auch um die verschwundene Jane Collins.
Außerdem hatte ich keine Lust, den Spuk zu reizen. Da wäre ein direkter Angriff fehl am Platze gewesen.
Ich drehte mich um. Die Spiegelfläche war wieder normal geworden. Das Gastspiel war beendet. Zumindest für den Spuk. Für Suko und mich aber fing das Drama erst an…
***
Jennifer Flannigan hatte sich etwas zu trinken geholt. Kein Wasser, sondern Whisky. Sie verzichtete auf ein Glas und trank direkt aus der Flasche. Als wir ihr Vorzimmer betraten, in dem sie wieder hinter ihrem Schreibtisch hockte, stellte sie die Flasche ab und legte beide Hände um die untere
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