1239 - Bilderbuch des Schreckens
gesehen. Ich habe auch nie etwas von ihm gehört. Er kehrte nicht mehr zurück.«
»Wann war das?«, unterstützte mich Suko.
Janet winkte ab. »Es liegt bereits einige Jahre zurück. Ich habe die Hoffnung auch aufgegeben, je wieder etwas von ihm zu hören. Er ist gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Er hat mich mit Tommy und dem Haus hier allein gelassen.«
»Und Sie können sich auch keinen Grund vorstellen?«
»Nein, das kann ich nicht. Es gab ja keinen Streit zwischen uns. Keine großen Auseinandersetzungen. Er ging und hat nicht einmal gepackt. Er war dann weg. Ich denke nicht, dass ich die einzige Frau bin, die ein derartiges Schicksal erlitten hat, aber ich habe es zum Glück geschafft, hier im Haus wohnen bleiben zu können, denn hier gehe ich auch meinem Beruf nach.«
»Welcher Beruf ist das?«
»Ich bin Übersetzerin.«
»Gut. Fachliteratur?«
»Nein. Belletristik. Ich kann von meinen Aufträgen recht gut leben, denke ich. So brauche ich keinen Menschen, der meinen Sohn und mich als Verdiener ernährt.«
Das Wort Sohn war für mich das Stichwort, denn von ihm waren wir abgekommen. »Es ist noch nicht so spät, und auch Vierzehnjährige gehen nicht so früh ins Bett. Können wir mit ihm ein paar Worte sprechen?«
»Nein, nein, das geht nicht.«
»Ist er nicht da?«
»Ja.«
Janet hatte mich bei der Antwort angeschaut und nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Auch blieben ihre Augen klar, sodass ich keine Falschheit in ihrem Blick las. Deshalb war ich davon überzeugt, dass sie mich nicht angelogen hatte.
»Er wird doch irgendwann zurückkommen, nicht wahr?«
Janet Olden schluckte. »Ich weiß es nicht. Es kann lange dauern.«
»Die Nacht über?«
»Möglich.«
»Und wo ist er hingegangen?«, fragte Suko. »In den nächsten Ort vielleicht, um dort mit seinen Freunden zu feiern…«
»Nein, so ist das nicht gewesen.«
»Wo steckt er denn dann?«
Bei den folgenden Worten schaute Janet ins Leere. »Er ist einfach gegangen. Plötzlich war er weg. Nicht zum ersten Mal. Er geht, wenn es dunkel ist und kommt irgendwann wieder.«
»Ohne Ihnen zu sagen, wo er gewesen ist - oder?«
Janet hob die Schultern.
»Bitte, Mrs. Olden, Sie müssen uns helfen. Es ist auch in Ihrem Sinne. Denken Sie daran.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, murmelte sie. Ihr Blick glitt dabei ins Leere. »Es tut mir wirklich Leid, aber das ist nicht möglich. Mein Sohn will in bestimmten Zeiten für sich sein. Das habe ich auch akzeptiert. Er kehrt immer wieder zurück, und so ist das nicht weiter schlimm, nehme ich an.«
»Was erzählt er denn bei seiner Rückkehr?«, wollte ich wissen.
»Wenig. Meistens nichts.«
Das ist nicht viel, dachte ich und stellte die nächste Frage.
»Kommt er Ihnen verändert vor? Ist er in sich gekehrter geworden oder vielleicht ängstlicher?«
»Das kann ich nicht sagen, Mr. Sinclair. Tommy ist schon immer ein ruhiger Junge gewesen, aber er hat mal davon erzählt, dass er jetzt einiges weiß und dass es Dinge gibt, die ich mir kaum vorstellen kann.«
»Welche genau?«
»Hat er nicht gesagt.«
Suko übernahm wieder das Wort. »Wir haben Ihnen von den vier Gestalten berichtet, die uns im Wald begegnet sind. Hat auch Ihr Sohn darüber gesprochen? Kennt er sie?«
Janet Olden zuckte nur stumm mit den Schultern. Das konnte alles und nichts bedeuten, aber sie präzisierte auch nichts. Sie sagte nichts und schaute ins Leere.
»Sie gehen davon aus, nicht wahr?«
»Ja, das kann sein.«
»Und was ist mit Ihnen, Mrs. Olden? Haben Sie diese ungewöhnlichen Gestalten auch gesehen?«
»Manchmal.«
»Danke, Mrs. Olden. Und wo ist das passiert?«
»Immer in der Nacht.«
»Und immer dann, wenn Ihr Sohn verschwunden war? Oder irre ich mich da?«
»Nein, Sie irren sich nicht. Wenn er ging, erschienen die Gestalten.« Sie atmete scharf ein. »So und nicht anders ist das gewesen. Und jetzt habe ich Ihnen genug gesagt, meine Herren. Schon mehr als es nötig war. Bitte, tun Sie mir einen Gefallen und verlassen Sie das Haus. Ich komme allein zurecht. Das habe ich schon über Jahre hinweg so gehalten.«
»Nein, Mrs. Olden, wir werden nicht verschwinden, auch wenn das Ihr Wunsch ist. Wir bleiben bei Ihnen. Zumindest werden wir uns in Ihrer Nähe aufhalten.«
Zum ersten Mal bekam ihre Gesichtshaut einen rötlichen Schimmer. Die Farbe schoss förmlich hinein. Ich wusste nicht, ob sie sich ärgerte oder Angst hatte, aber sie schaffte es auch, sehr heftig den Kopf zu schütteln. »Ich will nicht, dass
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