124 - In der Gewalt der Daa'muren
der Tochter von Königin Jenny gemacht.«
»Tochter?« Watzlowerst machte eine begriffsstutzige Miene. »Königin?«
Vom Eingang rief eine Männerstimme. Alle Augen richteten sich auf die zur Seite gezogenen Lederplanen vor dem Ruinentor. Ein mit Bogen und Streitaxt bewaffneter Wächter stand auf der Schwelle. »Besuch für den Hundemeister!«, rief er in die Ruine. Ein Halbwüchsiger trat hinter seinem Rücken heraus in den Saal, ein Bursche mit Bartflaum, fettigem, schwarzen Haar und schmutzigen Kleidern und Stiefel: Tilmo, der Sohn Guundals.
Er begrüßte seine Familie und nahm dann neben Rudgaar am Feuer Platz. Jemand reichte ihm einen halben Fisch und ein großes Tofanenstück. »Die Königin hat Arnau aus der Siedlung gewiesen«, sagte Tilmo, bevor er in den Fisch biss.
»Warum?« Die Neuigkeit überraschte Rudgaar.
»Keine Ahnung«, mampfte der Junge. »Nur Bulldogg und die Königin selbst wissen es. Aber die lassen nichts raus.«
»Wo ist Arnau jetzt?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Als ich Beelinn heute Morgen verließ, wohnte er noch immer in Meister Johaans Haus. Manche sagen, er will zurück nach Gödenboorg gehen, andere sagen, er wird den Befehl der Königin ignorieren und nie mehr gehen. Er hat viele Anhänger in der Siedlung.« Tilmo wischte seine von Fischfett verschmierte Rechte an der Hose ab und griff in seine Weste. »Hier. Eine Botschaft der Königin an dich.« Er reichte dem Hundemeister ein kleines Stück zusammengerolltes Pergament.
Rudgaar nahm und entrollte es. Er las es aufmerksam. Das Stimmengewirr im Saal legte sich allmählich. Viele neugierige Augenpaare hingen jetzt an dem Hundemeister. Schließlich hob Rudgaar den Blick. Er wandte sich an Brunor. »Ein paar Tage noch, dann müssen meine Familie und ich euch verlassen. Königin Jenny hat mich zu ihrem Ersten Königlichen Berater berufen.«
***
In den Wäldern vor Beelinn, Mitte Oktober 2520
Miouu? Der Himmel über dem Herbstwald war der Himmel, den sie kannte; die braungelben Farnfelder zwischen den Ruinen waren die Farnfelder, die sie kannte; und die Ruinen waren dieselben Ruinen wie immer, seit sie in Beelinn lebte.
Aber Miouu? Kannte sie Miouu mit den vielen Leben noch?
War Miouu mit den blauschwarzen Haaren noch dieselbe? War sie noch die Miouu, die ihrer Königin Treue geschworen hatte?
Manchmal, wenn sie ihre eigene Stimme hörte oder ihr Gesicht im Spiegel sah, fragte sie sich, wer das einst gewesen war – Miouu. War es nicht die Stimme einer Fremden, die immer häufiger aus ihr sprach? War es wirklich Miouus Gesicht, das sie aus dem Spiegel anschaute? Oder die Frau, die jetzt hier im Wald vor dem Kind, dem Hund und den beiden Soldaten zielstrebig auf eine ganz bestimmte Ruine zu ging – war das wirklich Miouu? Und wenn es Miouu war und nicht irgendeine Fremde, warum tat sie dann, was sie gerade tat?
Drei Wegstunden trennten sie inzwischen von Beelinn.
»Was wollen wir hier?« Die Kleine saß auf dem Rücken des Hundes. Schon seit sie die Stadt durch das Südtor verlassen hatten, quengelte Ann. »Ich will nach Hause. Was machen wir hier?«
»Ich kenne hier eine Stelle mit Brabeelen«, hörte Miouu sich sagen. Die beiden Bewaffneten tauschten mürrische Blicke aus. Die junge Frau sah nicht, was hinter ihrem Rücken geschah, wollte es nicht sehen. Sie verließ den Pfad und durchquerte ein Farnfeld. Die beiden Palastgardisten und der Doyzdogger mit dem Kind folgten ihr. »Viele dicke Brabeelen. Das magst du doch, Anniemouse, oder?«
»Das mag ich überhaupt nicht, nach Hause mag ich…!«
Das Gelände stieg ein wenig an. Noch etwa vierzig Schritte bis zu der Lichtung zwischen den Resten eines zerstörten Straßenzuges und der Ruine eines uralten Gotteshauses. Vor Moos und Efeu sah man kaum das schwarze Gestein. Vor allem das Haus war über und über eingesponnen von Baumkronen, Büschen, Moos und Klettergewächsen.
»Gotteshaus« – so nannten die Beelinner diese Ruine, Königin Jenny nannte sie »Kirche«.
»Das Zeug kratzt mich!« Ann schlug um sich, weil der Farn ihr Gesicht streifte. Eine Zornesfalte stand zwischen ihren Brauen. »Will endlich nach Hause!«
»Wir sind gleich da.« Miouu spähte zu dem nur halb von Efeuranken verhülltem Eingang des Gotteshauses. »Gleich sind wir da…«
»Nimm's mir nicht übel, Miouu«, sagte einer der beiden Soldaten. »Aber es ist nicht die Zeit für Brabeelen. Längst nicht mehr.«
Miouu reagierte überhaupt nicht. Den Blick auf den Eingang der Ruine
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