1244 - Die Besucher
ich nicht fertig. Ich will meinen Sohn zurückhaben und ich…«
»Er wird bestimmt kommen.«
»Ach, daran glaubst du doch selbst nicht, Max. Du musst nicht versuchen, bei mir die Trösterin zu spielen. Das kommt wirklich nicht an. Es ist nun mal passiert, dass wir am falschen Ende des Hebels sitzen. Nicht mal John Sinclair kann es ändern.« Sie sprach hektisch weiter. »Ich habe wirklich Hoffnungen auf ihn gesetzt. Vergebens. Wo ist er? Er ist verschwunden, als hätte er sich aus dem Staub gemacht.«
»Nicht John, Germaine.«
»Du hältst wohl verdammt viel von ihm, nicht?«
»Sogar sehr viel. John Sinclair hat mir geholfen. Er ist jemand, der nicht so leicht aufgibt. Oder noch nie aufgegeben hat. Das wird er auch hier nicht tun.«
»Aber er hat Kevin nicht gefunden. Er ist auch nicht zurückgekehrt. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Warum macht er das? Warum setzt er sich nicht mit uns in Verbindung? Kannst du mir das sagen, Max?«
»Ich weiß es auch nicht. Er wird seine Gründe haben.«
»Das kann ich nicht akzeptieren.«
»Wir müssen trotzdem abwarten.«
»Ja, ich weiß. Wir müssen immer nur abwarten. Etwas anderes fällt uns nicht ein.« Sie deutete mit hektischen Bewegungen über ihre Schulter zurück. »Und irgendwann stehen sie dann vor der Haustür und werfen uns raus. Dann fackeln sie unser Haus ab, wenn wir nicht gehorchen. So sieht das Ende aus.«
Maxine sagte nichts. Sie wusste auch nicht, durch welche Worte sie die Freundin noch trösten konnte. Es sah wirklich nicht gut aus, aber daran konnte sie nichts ändern.
Maxine Wells trat wieder ans Fenster, um hinauszuschauen.
Die beiden Frauen hatten kein Licht im Raum eingeschaltet, so dass es auch dort immer dunkler geworden war, wie eben auch draußen. Die finstere Jahreszeit machte ihrem Namen alle Ehre. Vom Himmel herab schien sich ein dunkler Vorhang gesenkt zu haben, so dass die Erde und das Firmament miteinander verschmolzen.
Vor dem Haus war es ruhig. Kein Wächter ging hier offen auf und ab und schaute provozierend zum Fenster hin. Aber sie waren in der Nähe, davon ging Maxine aus, denn es gab auch hier genügend Verstecke, von denen aus das Haus unter Kontrolle gehalten werden konnte.
Maxine Wells sah noch etwas. Zuerst wollte sie daran vorbeischauen, dann blickte sie noch mal hin, und ihre Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, weil sie etwas entdeckt hatte, das ihrer Meinung nach nicht in das Bild des Himmels hineinpasste.
Hinter den Wolken oder auch genau zwischen ihnen schwebte ein heller Streifen. Es war vergleichbar mit einem Licht, das sich dahinter aufgebaut hatte, und sie spürte, wie allmählich die Kälte durch ihre Glieder kroch, denn das Licht war nicht normal. Für sie gab es nur eine Möglichkeit. Dort lauerten die Anderen, die Besucher. Sie warteten darauf, zu ihrem Ziel zu kommen, das sie noch in Ruhe ließen.
Hinter ihrem Rücken hörte sie das Stöhnen.
Sofort fuhr Maxine herum und erschrak, weil sich Germaine verändert hatte. Sie war blasser geworden. Hätte es nicht den Sessel als Stütze gegeben, wäre sie sicherlich zusammengesackt. So aber hielt sie sich an seiner Rückenlehne fest. Ihr Blick war unstet geworden und mit der freien Hand fuhr sie fahrig durch die Luft.
»Was ist los, Germaine?«
Maxine musste die Frage wiederholen, um eine Antwort zu bekommen.
»Sie sind fast da, Max. Die Besucher. Ich spüre sie. Kannst du das verstehen?«
»Wo sind sie?«
»In der Nähe. Nicht mehr weit weg. Ich kann sie so deutlich spüren. Das ist schlimm…«
»Und weiter…?«
»Nichts mehr. Nur das Gefühl. Auch nichts von Kevin. Aber ich weiß, dass sie ihn holen wollen. Sie werden es auch schaffen. Davon bin ich überzeugt. Ja, das bringen sie fertig. Heute kommt alles zusammen. Man will uns aus dem Haus vertreiben und dann wollen die Besucher Kevin holen. Das ist grauenhaft.«
Maxine blieb nicht mehr an ihrem Platz. Sie ging auf die Freundin zu und drückte sie in den Sessel. Germaine ließ alles mit sich geschehen, sie hatte so gut wie keinen Willen mehr, denn die Furcht vor dem Kommenden war stärker.
Sie saß jetzt im Sessel, aber sie wirkte dabei wie fremdgesteuert.
Ihr Blick war verloren. Sie schaute irgendwo hin, nur nicht Maxine an. Gedanklich war sie ganz woanders.
Maxine baute sich vor ihr auf. Sie musste sich zusammenreißen, um ihre eigene Furcht nicht zu zeigen. Was hier passierte, ging auch über ihren Horizont, aber nur Germaine konnte ihr eine Antwort geben, denn sie hatte Kontakt
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