1251 - Stalker
Nachbildung wirkte vor allem kompakter und in sich geschlossener, aber Anne fragte sich auch, ob die Zöglinge auf diesem engen Raum genügend Bewegungsfreiheit haben würden ... Es kam natürlich darauf an, für welche Zwecke diese Nachbildung gedacht war.
Leo hatte inzwischen das Virengebilde erreicht. Er stand so nahe, daß er über die Außenwulst nicht mehr auf die Oberfläche der Plattform sehen konnte.
Er ließ seine Finger über das kühle, glatte Virenmaterial gleiten und fragte sich, ob es nicht irgendeine Treppe nach oben oder einen Zugang ins Innere gäbe.
Da tat sich vor ihm ein Schott auf.
„Tritt ein", sagte eine sanfte, tiefe Frauenstimme. „Hab nur keine Scheu, Leonard Frood. Ich habe dein Rufen gehört und bin ihm gefolgt."
„Ich habe nicht gerufen", sagte er, während er durch die Schleuse ins Innere trat. Er kam durch eine kurze übermannshohe Röhre in eine kahle, sterile Kammer. Er war enttäuscht.
„Es liegt an dir, die Inneneinrichtung zu gestalten", sagte das Virenimperium, als könne es seine Gedanken lesen. Und Leo wurde augenblicklich bewußt, daß es tatsächlich seine Gedanken gelesen hatte.
„Ich weiß nicht", sagte er unsicher, räusperte sich und begann wieder von vorne.
„Ich weiß nicht, welcherart Inneneinrichtung zweckmäßig wäre, weil ich noch nicht einmal weiß, was diese Virengebilde darstellen soll."
„Was hättest du denn am liebsten?" fragte das Virenimperium.
Leos Gedanken überschlugen sich. Er stellte die verschiedensten Überlegungen an.
Er stellte sich dieses Gebilde als neue Heimstätte für seine Zöglinge vor und tat es als ungeeignet ab. Dies war kein Ersatz für Leos Kindergarten. Es war alles so nüchtern und kalt, ohne jegliche Atmosphäre. In einer solchen Umgebung würden die Kinder bald gemütskrank werden.
„Warum scheust du dich denn, das auszusprechen, was du wirklich möchtest?" ermunterte ihn das Virenimperium. „Ich gehöre euch. Dir und Anne und euren Zöglingen.
Ihr könnt mich ganz nach euren Wünschen gestalten, ihr könnt alles aus mir machen.
Keine noch so ungewöhnliche Idee wäre zu phantastisch, um verwirklicht werden zu können. Aber etwas möchte ich doch zu bedenken geben."
„Und das wäre?" fragte Leo.
„Ich kann alles aus mir machen, was ihr euch wünscht", erklärte das Virenimperium.
„Die Viren sind omnipotent, können jegliche Form, Konsistenz und Eigenschaft annehmen. Wenn sie jedoch erst einmal spezialisiert sind, dann sind sie nicht mehr wandlungsfähig. Was ihr auch immer aus mir macht, das wird von Bestand sein. Es gilt also gut zu überlegen, welche endgültige Form ihr mir geben wollte."
Leo schwindelte. Seine Gedanken drehten sich im Kreise, aber allmählich merkte er, daß sie sich nur um einen einzigen Punkt drehten.
Die Erinnerung an ein Ereignis aus jüngster Zeit kam ihm. Es hatte ihn schon damals erregt und versetzte ihn auch jetzt in Erregung. Es war die Erinnerung an jenen Augenblick, als Ernst Ellert die Virensäule auf dem Platz vor dem HQ-Hanse verließ, nachdem er sie viele Tage lang blockiert hatte.
Die Medien hatten das folgende Schauspiel übertragen, und Leo hatte es aufgezeichnet und sich immer wieder vorgespielt.
Und nun sah er es wiederum vor seinem geistigen Auge, wie sich eine Virenwolke auf Ernst Ellert herabsenkte. Und aus der Virenwolke bildete sich ein Raumschiff in Form eines stilisierten Vogels.
Dieser Vorgang hatte Leo in seinen Bann geschlagen und seit damals nicht mehr losgelassen.
ZUGVOGEL hatte Ernst Ellert sein Virenraumschiff genannt, und von diesem Augenblick an hatte sich auch Leo einen solchen „Zugvogel" gewünscht.
„Warum zögerst du so lange?" ermunterte ihn das Virenimperium. „Glaubst du mir nicht, daß dieses Virenfragment euch gehört? Zweifelst du daran, daß es nach euren Wünschen geformt werden kann? Dabei ist es so einfach, sich zu überzeugen."
„Und du kannst wirklich alles aus dir machen, was wir wollen?" vergewisserte sich Leo.
„So ist es."
„Auch ein Raumschiff?"
„Ich bin ein Raumschiff", sagte das Virenimperium.
In diesem Augenblick tauchte Anne mit den ersten Kindern auf. Als sie durch die Röhre in den kahlen Raum kamen, erweiterte sich dieser, um sie alle aufnehmen zu können.
„Wir haben unser eigenes Raumschiff, Freunde", sagte Leo zu den Zöglingen.
„Und wir können es nach unseren eigenen Bedürfnissen gestalten und ausbauen. LEOS KINDERGARTEN ist nicht länger erdgebunden, sondern wird demnächst seinen
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