1256 - Belials Bann
Wirklichkeit gekehrt war.
Ich ging zum Bett, denn ich wollte sie nicht länger dort allein lassen.
Zuerst zuckte sie zurück, als sie mich sah, dann erkannte sie mich und sprach mich an. Zuerst auf Russisch, danach auf Englisch, weil ihr eingefallen war, wen sie vor sich hatte.
»Gott, wo ist das Mädchen?«
»Nicht mehr hier.«
»Und?«
»Wir nehmen an, dass es entführt wurde.«
»Entführt«, flüsterte sie und legte danach eine Schweigepause ein. »Ja, entführt…« Dann wiederholte sie das letzte Wort noch einmal mit einem erschreckten Unterton in der Stimme. »Meinen Sie wirklich, dass sie entführt worden ist?«
»Ja, das meine ich.«
»Und wer?« Ich streckte ihr die Hand entgegen, um ihr vom Bett zu helfen. »Und wer hat es getan?«, fragte sie.
»Das müssten Sie wissen.«
Die ältere Frau fiel gegen meine Arme. Sie blieb in dieser Haltung stehen und schüttelte den Kopf.
»Ich habe keinen Menschen gesehen oder doch…?«
Eine Antwort erhielt sie von mir nicht. Ich wollte sie erst mal nachdenken lassen. Als eine Weile vergangen war, erkundigte ich mich: »Ist da wirklich nichts gewesen?«
»Doch, doch«, gab sie flüsternd zurück und ließ mich stehen. Sie durchquerte das Zimmer. »Ja, da ist etwas gewesen.«
Ich hörte sie, weil ich ihr auf den Fersen geblieben war. Veruschka ging zum Wasserhahn, drehte ihn auf und trank einige Schlucke. »Ich habe es nicht mehr so gut in Erinnerung, aber ich kann Ihnen sagen, dass etwas passierte.« Sie dachte einen Moment nach. »Aber es ist so plötzlich über uns gekommen. Die andere Macht, die andere Person. Sie huschte einfach herein.«
»Daran erinnern Sie sich?«
»Ja, das können Sie mir glauben. Ich erinnere mich deutlich. Es kam über uns wie ein Sturmwind. Das war der reine Wahnsinn, und wir konnten uns nicht wehren.« Sie setzte sich auf einen Stuhl. »Es ist die andere Macht gewesen«, flüsterte sie. »Ja, eine andere Macht, die das Grauen brachte.«
»Tamara - oder?«
Die alte Ärztin blickte mich an. »Ich kann es nicht sagen. Ich habe ja nichts gesehen, sondern nur etwas gespürt, verstehen Sie? Nur gespürt, was hier ablief.«
»Und weiter?«
»Dann wurde ich bewusstlos.«
»Haben Sie nichts mehr gehört? Hat man Sie angesprochen?«
»Nein, nein, nein!«, rief sie. »Es ist alles so anders gewesen. So verdammt anders.«
»Ja«, sagte ich, »das kann ich verstehen. Es tut mir auch Leid, dass wir nicht bei Ihnen waren.«
»Ach, das ist doch nicht Ihre Schuld. Sie können nicht in die Zukunft hineinschauen. So etwas ist unmöglich. Nein, da müssen wir schon den Tatsachen ins Auge sehen. Wir müssen uns damit abfinden, dass sie verschwunden ist. Das Kind wurde gekidnappt, einfach geholt, und wer weiß, was sie mit der Kleinen vorhaben.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich weiß, das ist leicht gesagt, aber es stimmt. Sie konnten wirklich nichts dagegen tun, Veruschka. Es ist zu einer Verkettung unglücklicher Umstände gekommen, aber ich kann Ihnen versprechen, dass wir Jamina suchen und auch finden werden. Wir bringen sie wieder zurück.«
Mit einer sehr müden Bewegung hob die Ärztin den Kopf, um mir ins Gesicht zu schauen. »Meinen Sie wirklich, dass Sie sie wieder zurückbringen können?«
»Ja.«
»Daran kann ich nicht glauben. Es ist eine andere Macht und wir sind nur Menschen.«
»Da haben Sie leider Recht. Aber es gibt auch Menschen, die sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen. Wir sind gekommen, um einen Fall aufzuklären. Wir werden Tamara stellen, das kann ich Ihnen versprechen. Die Lüge von der Heilerin wird sehr bald der Vergangenheit angehören.«
»Hoffentlich.« Das sagte nicht Veruschka, sondern Karina Grischin, die den Nebenraum verlassen hatte und langsam auf uns zukam. Sie hatte die letzten Sätze unserer Unterhaltung mitbekommen und stellte sich neben uns.
»Wie geht es Svetlana?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht gut, John, wirklich nicht gut. Sie ist ganz unten und es wird lange dauern, bis sie darüber hinweg ist. Der Graben ist verdammt tief.«
Ich drehte mich und schaute wieder die Ärztin an. »Da wird es wirklich besser sein, wenn Sie jetzt bei ihr bleiben und sie unterstützen. Ist das okay?«
»Ja, natürlich, Sie braucht jetzt meine Hilfe. Das ist keine Frage.« Sie strich über ihr aschgraues Haar.
»Aber darf ich fragen, was Sie jetzt vorhaben?«
»Ja, das dürfen Sie. Und Sie erhalten sogar eine Antwort. Wir kümmern uns um das Kind.«
»Wo wollen Sie denn
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