1261 - Blut aus dem Jenseits
schon als Mittelding zwischen Mensch und Dämon?
»Aber näher beschreiben kannst du ihn auch nicht - oder?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe ihn ja nicht gesehen, das habt ihr mir voraus. Es kann sein, dass er so etwas wie ein Gratwanderer ist. Einer, der zwischen beiden Seiten festhängt. Der auch aussieht wie ein Mensch, aber nicht als solcher durchgeht.«
Da Shao schwieg, forderte ich sie auf weiter zu reden.
»Ja, gut, eben ein Mittelding«, sagte sie. »Halb Dämon, halb Mensch. Ich weiß es ja auch nicht genau. Wobei das Menschliche möglicherweise überwiegt, wenn man von seinem Aussehen ausgeht. Das ist doch für euch weder fremd noch monsterhaft gewesen - oder?«
»Stimmt«, gab Suko zu.
»Jetzt müssen wir nur noch herausbekommen, wer es war«, forderte Shao uns auf.
Da konnten wir nur allgemein reden. Suko überließ es mir, und ich sagte mit leiser Stimme: »Auch wenn ihr lacht, aber ich könnte ihn mir in der Ecke der Engel vorstellen. Nur eben ein Engel, wie man ihn landläufig nicht kennt. Ohne Flügel und so weiter. Einer, der vielleicht nicht weiß, woher er richtig kommt und wohin er gehört. Ich kann es nicht sagen. Ich spreche nur meine Gedanken aus.«
»Wir haben Engel erlebt«, sagte Suko.
»Ja, das haben wir. Das haben wir schon öfter. Wir wissen auch, wie verschieden sie sind. Engel müssen nicht unbedingt Flügel haben. Auch bei ihnen gibt es unterschiedliche Rollen. Sie schweben nicht alle durch die Luft und singen Halleluja. Engel können auch kriegerisch sein. Das fing schon bei Michael an, und dieser Tote ist jemand, der vielleicht auf der einen und zudem noch auf der anderen Seite steht. Man kann von einem Zwitter ausgehen.«
»Und wer hasst ihn so stark, dass er ihn gejagt und letztendlich getötet hat?« fragte Shao.
»Das müsst ihr herausfinden. Ihr seid doch die Fachleute auf diesem Gebiet.«
Das waren wir in der Tat. Doch auch Fachleute geraten an ihre Grenzen, und das mussten wir in diesem Fall einsehen. Wir wussten einfach zu wenig, und vor allen Dingen wussten wir nicht, wer den Nackten so brutal getötet hatte.
Mir kam ein anderer Gedanke, und den behielt ich auch nicht für mich. »Vielleicht ist es so gewesen, dass unser Freund in der Kirche Hilfe vor seinem Feind gesucht hat. Er konnte sie nicht finden und musste sterben. Dann denke ich weiter darüber nach und frage mich, ob er der Einzige war, der sich hier in der Stadt aufgehalten hat. Ich nehme sogar an, dass es noch mehrere dieser Geschöpfe gibt, die sich in London oder woanders aufhalten. Möglich ist alles. Er oder sie sind geflohen, um Schutz zu finden.«
»Unter anderem in der Kirche?«
»Genau, Suko.«
»Und wo noch?«
»Vielleicht auch in anderen Kirchen hier im Umfeld. Wer weiß das schon? Wichtig für uns ist, dass er nicht mehr am Leben war, als wir ihn fanden. Dass er auf die Berührung mit dem Kreuz so reagieren würde, hätte ich mir auch nicht vorgestellt. Aber wir brauchen uns deshalb keine Vorwürfe zu machen, denke ich. Oder seht ihr das anders?«
»Nein.« Da sprach Suko für Shao gleich mit.
»Trotzdem stehen wir am Anfang und kommen von allein nicht weiter.« Ich war da realistisch und wollte noch etwas hinzufügen, aber Suko kam mir zuvor.
»Es wäre natürlich eine Möglichkeit, alle Kirchen durchsuchen zu lassen. Aber immens zweitaufwendig, wenn du verstehst. Letztendlich aber müssen wir alles in Betracht ziehen.«
Ich winkte ab. »Meine Annahme ist durch nichts zu beweisen. Ich habe nur von einer Theorie gesprochen, und es ist auch nur eine letzte Möglichkeit. Wahrscheinlicher ist, dass wir warten müssen, bis wieder etwas passiert und uns ein Mord gemeldet wird.«
»Gefällt mir nicht«, sagte Suko.
Ich zog meine ausgestreckten Beine an. »Denkst du, mir? Aber ich sehe keine bessere Möglichkeit. Wir können nicht eingreifen, weil wir nichts wissen. Es gibt keine Fakten. Daran müssen wir uns gewöhnen.« Nach diesem Satz stand ich auf. Dabei lächelte ich Shao an. »Selbst im Internet wirst du keine Lösung finden.«
»Diesmal nicht, John, das gebe ich zu. Das Internet ist auch nicht allmächtig, aber über Engel steht so einiges drin. Ich werde trotzdem nachschauen.«
»Okay, tu das.« Für mich war der Tag vorbei. Ich wollte nach nebenan in meine Wohnung gehen und mich langmachen. Aber ich wusste auch, dass ich mit dem Einschlafen Schwierigkeiten haben würde. Ungelöste Probleme sind eben kein gutes Schlafmittel.
Suko ging noch mit zur Wohnungstür.
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