1261 - Blut aus dem Jenseits
Fenstern. Dort hatte sich etwas verändert. Da hielt sich jemand fest. Einer, der aussah wie eine Figur, aber nicht völlig starr war, sondern den Kopf zu mir hindrehte, um mich anzuschauen.
Im ersten Moment glaubte ich, mich in einem Film zu befinden. Die Gestalt hatte ich noch nie zuvor gesehen, aber ich kannte sie trotzdem, denn sie glich der in der Kirche wie ein Ei dem anderen, als hinge dort der Zwillingsbruder des Toten an der Hauswand…
***
Die hässliche Fratze in der Scheibe war für Tina Steene der große Schock gewesen, aber auch der Antrieb zur Flucht. Sie musste so schnell wie möglich aus ihrer Wohnung weg. Ob sie im Freien sicherer war, wusste sie nicht, aber sie würde sich dort sicherer fühlen.
Sie rannte zur Tür und riss sie auf.
Das Treppenhaus lag im Dunkeln vor ihr. Es war eine Falle, wenn sie jetzt in die Tiefe rennen würde. Sie musste Licht machen. Es war nie richtig hell, darüber hatte sie sich oft geärgert, aber das machte ihr jetzt nichts aus. Es war immerhin hell genug, um die Stufen zu erkennen.
Sie floh so schnell sie konnte. Wie oft war sie durch das Treppenhaus gelaufen, doch nie mit einer derartigen Angst im Nacken, die ihr wie eine Peitsche vorkam. Die Peitsche der Angst trieb sie voran und ihre Flucht wurde zu einer wahren Hatz in die Tiefe des Treppenhauses hinein.
Endlich lag die Haustür nur wenige Schritte vor ihr. Sie lief trotzdem nicht hin, sondern schaute zunächst zur Treppe zurück, weil sie noch immer mit einem Verfolger rechnete.
Das Monstrum erschien nicht. Für Tina kein Grund zur Freude. So wie es aussah, glaubte sie nicht daran, dass es die Verfolgung aufgegeben hatte. Sie war eine Zeugin, und da musste sie aus dem Weg geschafft werden. Etwas anderes kam für sie nicht in Frage.
Die Haustür wurde nicht abgeschlossen. Oder nur in den seltensten Fällen. Auch hier hatte sie Glück. Sie zog die Tür auf, aber sie ging dabei sehr behutsam zu Werke.
Der erste Blick durch den Spalt nach draußen zeigte ihr, dass alles normal aussah. Tina fühlte sich als gebranntes Kind, und sie traute dem Frieden nicht.
Weiterhin sehr vorsichtig zog sie die Tür weiter auf. Sie hielt den Atem an - und ließ ihn dann zischend aus ihrem Mund strömen, als sie sah, dass sie von niemandem erwartet wurde.
London gehört zu den Städten, in denen es auch in der Nacht nie richtig ruhig wird. Der Verkehr läuft immer, er nimmt nur eben andere Geräusche an. Sie klingen leiser und gedämpfter. Das erlebte die Frau auch in dieser Nacht.
Die Straße gehörte zu den stillen in der Stadt und zählte auch nicht zur Szene, in der sich oft Verbrechen abspielten. Die Gegend wirkte mit ihren alten Jugendstilbauten und den oft nicht bepflanzten Vorgärten ein wenig vergessen.
Tina hatte bereits einen Blick in den Vorgarten geworfen und keine Veränderung festgestellt. Sie schaute auch zur anderen Seite hin, wo sich die Häuser ebenfalls als dunkle Kulisse aufbauten und nur aus wenigen Fenstern Licht fiel.
Es war nicht leicht für sie, den ersten Schritt nach draußen zu tun. Am liebsten hätte sich Tina in irgendeinem Winkel des Hauses so lange versteckt, bis die Gefahr vorbei war.
Aber wann war sie vorbei?
Sie konnte es nicht sagen. Sie besaß keinen guten Blick. Die Dunkelheit fraß vieles auf, und endlich traute sie sich hinaus.
Die Gänsehaut auf dem Rücken blieb. Ebenso wie der Druck um den Magen herum.
Sie schaute in die Höhe.
Der Himmel war bedeckt. Kein Mond, keine Sterne, nichts malte sich dort ab. Nur die dunklen Wolkenberge, die schwer wie Blei über der Stadt lagen.
Tinas Blick blieb nach oben gerichtet, als sie den schmalen Vorgarten durchquerte. Obwohl der Frühling vor der Tür stand, blühte dort nichts. Er sah ebenso trist aus wie in den Wintermonaten zuvor. Auch zwei kleine Bäume wuchsen in der Nähe. Ihr Astwerk war ebenfalls leer. Auch der Verfolger hockte dort nicht.
Sie ließ den Vorgarten hinter sich. Der Gehsteig war nicht besonders breit, aber ihr reichte er. Mit dem Rücken zur Straße hin blieb sie stehen. Der Kopf war noch immer in den Nacken gedrückt.
Trotzdem schaute sie weiter in die Höhe und damit an der Fassade ihres Hauses entlang, ohne etwas Verdächtiges zu erkennen.
In ihrem Zimmer brannte noch Licht. Es erhellte das Viereck der Scheibe und das in seinem gesamten Ausmaß. Eine Gestalt hockte dort nicht mehr.
Tina war trotzdem nicht froh darüber. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieses verfluchte Wesen aufgegeben hatte.
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