1261 - Blut aus dem Jenseits
für eine Psychopatin. Für ein überdrehtes und völlig hysterisches Weib. Das haben Sie zwar nicht gesagt, aber ich konnte es aus dem Tonfall Ihrer Antworten heraushören.«
»Bitte, Mrs. Steene, das haben Sie gesagt, nicht ich.«
»Ich weiß trotzdem Bescheid.«
»Schließen wir einen Kompromiss. Sobald ich wieder zwei Kollegen frei habe, schicke ich Sie bei Ihnen vorbei. Ist das für Sie so akzeptabel, Mrs. Steene?«
»Machen Sie sich keine Mühe mehr«, erklärte sie, und diesmal klang ihre Stimme erschöpft. Bevor der Beamte noch etwas erwidern konnte, legte sie auf.
Verdammt, verdammt, schoss es ihr durch den Kopf. Was habe ich falsch gemacht?
Sie gab sich selbst die Antwort. Sie hatte viel zu emotional reagiert. Sie hätte cooler sein müssen, aber wer war das schon nach einem derartigen Erlebnis? Sie konnte nur froh sein, mit dem Leben davongekommen zu sein, aber eine Lösung hatte sie auch nicht gefunden. Tina war weiterhin ratlos.
Das Gespräch hatte sie stark aufgeregt. Sie fühlte sich noch immer wie unter Strom stehend, und ihr Gesicht war erhitzt. Allmählich jedoch kehrte das normale Denken zurück und, das bestand bei ihr aus Bildern.
Die schrecklichen und auch unglaublichen Szenen liefen noch mal vor ihrem geistigen Auge ab. Sie sah sich wieder an der Tür stehen und schaute dem Kampf der beiden für sie so fremden Gestalten zu. Und jetzt wunderte sie sich darüber, dass sie noch am Leben war. Schließlich hatte sie als Zeugin dort gestanden.
Zufall? War diese Fledermaus satt gewesen? Wollte sie kein menschliches Blut mehr? Oder lauerte sie vielleicht im Verborgenen, um später zuschlagen zu können?
Wie Tina es auch drehte und wendete, es war ihr nicht möglich, zu einem klaren Ergebnis zu gelangen. Die Polizei konnte sie vergessen. Auch wenn der Sergeant davon gesprochen hatte, Kollegen vorbeizuschicken. Das würde nie und nimmer passieren, das war nur eine Ausrede gewesen. Da konnte er erzählen, was er wollte.
Allmählich festigte sich in ihr der Entschluss, dass sie mit den Vorfällen allein zurechtkommen musste. Wen immer sie auch anrief, man würde ihr nicht glauben. So etwas gehörte in einen Horrorfilm, jedoch nicht in die Wirklichkeit. Es gab also keine Person in London, an die sie sich wenden konnte.
Aber in der Wohnung wollte Tina auch nicht bleiben, denn sie war ihr plötzlich so eng geworden, dass sie die Räume bereits als eine Falle ansah.
Also raus und weg! Dorthin laufen, wo sich Menschen befanden. In ein Lokal gehen, sich dort ablenken lassen, Menschen treffen, mit ihnen reden. Vielleicht den Bruder anrufen, der mit seiner Familie auch in London lebte, doch der würde sie auch nur auslachen, was sie vor diesen Vorfällen auch getan hätte.
An das alles dachte sie und tat trotzdem nichts. Sie blieb im Sessel sitzen, nagte an der Unterlippe und dachte darüber nach, dass es so still geworden war. Wie zu der Zeit, als sie in der Badewanne gesessen hatte.
Da hatte sie dann die Laute und Kampfgeräusche gehört. Hier wiederholten sie sich nicht.
Das nasse Haar war in der Zwischenzeit teilweise getrocknet. Es lag nicht mehr so glatt auf ihrem Kopf, sondern hatte sich etwas aufgebauscht und hätte jetzt eigentlich durchgekämmt werden müssen, was sie jedoch nicht tat. Dazu reichten auch die Finger.
Kein Blut tropfte mehr aus der Decke. Auch an den Wänden sah sie diese Spuren nicht. Es blieb so normal, und die Frau hatte das Gefühl, als wollte die Normalität all den Schrecken, der hinter ihr lag, doppelt so gut verdecken.
War es wirklich schon zu Ende?
Tina merkte, dass sie sich immer mehr der Normalität näherte und auch wieder klar denken konnte.
Sie hatte etwas gesehen, das es praktisch nicht geben konnte. Zumindest fand sie dafür keine rationale Erklärung. Sie war eine Zeugin gewesen. Konnte die andere Seite es sich leisten, eine Zeugin am Leben zu lassen?
Genau darüber dachte sie nach. Im Prinzip nicht. So etwas war eigentlich nicht drin und…
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil ihr am Fenster etwas aufgefallen war. Eine kurze Bewegung. Ein Huschen jenseits der Scheibe und nicht mehr.
Noch am vergangenen Tag wäre ihr das egal gewesen. Jetzt allerdings nicht. Tina war alarmiert. Sie saß noch, aber ihre Haltung hatte sich versteift, und sie war bereit, jeden Augenblick in die Höhe zu schnellen, um nachzuschauen.
Entgegen ihrer Überzeugung blieb sie sitzen. Der Blick allerdings war auf die Scheibe gerichtet, und dicht dahinter sah sie abermals
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