1264 - Justines Geisel
ich mit ihm reden?«
»Nein, nein, das übernehme ich.«
Unser Chef war bereits seit dem Mittag verschwunden. Man hatte ihn bei irgendeiner Besprechung dabeihaben wollen. Er war jemand, der derartige Termine einfach nutzen musste, das gehörte zu seinem Job. Aber er war für uns auch stets erreichbar, und darauf kam es letztendlich an, denn die Musik spielte in der Regel bei Suko und mir.
Ich wählte ihn an. Seine Handynummer kannten nur wenige Personen; Suko und ich gehörten dazu.
Sir James meldete sich schnell. Im Hintergrund hörte ich das Murmeln zahlreicher Stimmen.
»Sir, ich störe nicht gerne, aber es gibt ein Problem, und da sollten Sie Bescheid wissen.«
»Was ist, John?«
Wenig später kannte er die Wahrheit, die so hart war, dass sie ihn schockte. Ich erlebte meinen Chef nicht oft sprachlos, in diesem Fall allerdings konnte er zunächst nichts sagen.
»So sieht es aus, Sir, und wir müssen Glenda da herausholen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Das sehe ich auch so. Haben Sie einen Plan?«
»Keinen konkreten. Sie kennen das. Wir werden uns nach den Dingen richten müssen.«
Er blieb sachlich und fragte: »Was hat diese verdammte Cavallo vor? Das hängt doch nicht nur einfach mit der Entführung zusammen. Sie ist nur Mittel zum Zweck, doch ich frage mich, zu welch einem Zweck. Was alles steckt dahinter?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen, Sir.«
»Aber Sie denken an die Engel.«
»Genau.«
»Bitte, dann…«, ihm fehlten die Worte, was bei ihm selten vorkam. Doch auch er wusste um die Brutalität und die Raffinesse von Justine Cavallo.
»Sehen Sie bitte zu, dass Sie heil aus dieser Lage herauskommen. Und nicht nur Sie, John, auch Glenda und Suko.«
»Wir werden es versuchen, Sir.«
»Erreichbar bin ich Tag und Nacht für Sie.«
»Das weiß ich ja, Sir.«
Unser Gespräch war beendet. Als ich den Hörer auflegte, lagen Schweißtropfen auf meiner Stirn, obwohl es nicht eben warm im Vorzimmer war. Suko hatte schon meine Jacke geholt und warf sie mir zu.
»Können wir?«
»Ja«, flüsterte ich.
Wir verließen das Büro. Die Angst war da. Aber sie galt weniger mir, sondern Glenda Perkins…
***
Justine Cavallo steckte das Handy wieder weg und schaute Glenda aus ihren klaren und kalten Augen an. Die Kontaktaufnahme war beendet, und es gab nur eine Siegerin, das war sie.
Glenda spürte das Reißen unter ihren Armen kaum noch, zu sehr hatte sie das letzte Gespräch innerlich aufgewühlt.
Schließlich konnte die Cavallo sich nicht mehr zurückhalten. »Was meinst du, Glenda, wie wird dein Freund reagieren?«
Glenda musste zunächst zweimal schnaufen, bevor sie antworten konnte. »Er wird kommen.«
»Ja, das denke ich auch. Nicht nur deinetwegen, auch wegen meiner Wenigkeit. Aber ich denke nicht, dass er allein kommen wird. Er bringt Suko mit. Allerdings mit dem einen Unterschied, dass wir beide ihn nicht zu Gesicht bekommen sollen. Ich kenne sie doch. Suko wird sich im Hintergrund halten und aus einer sicheren Deckung hervor beobachten. Schließlich sind die beiden ein gut eingespieltes Team. Nur wird ihnen das auch nichts nutzen, denn ich werde raffinierter sein. Wir kennen uns gut genug, damit sich jeder in die Denkweise des anderen hineinversetzen kann. So glaube ich, dass er diesmal den Kürzeren ziehen wird.« Sie schüttelte den Kopf. »Was heißt hier glauben? Ich weiß es längst. So sieht es aus.«
Glenda hatte den Monolog der blonden Bestie mit keinem Wort unterbrochen. Trotz ihrer Situation dachte sie weniger an die eigene Lage in dieser kahlen, kalten, leeren Fabrikhalle, die schon einmal zu einem Schauplatz des Grauens und der Gewalt geworden war. Da allerdings waren John und Suko als relative Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgegangen. Jetzt wollte Glenda darauf nicht mehr wetten, denn jemand wie Justine Cavallo kannte alle Tricks.
Die Vampirin strich mit einer lockeren Bewegung das hellblonde Haar nach hinten. Dann drehte sie sich um, blieb allerdings auf dem gleichen Fleck und richtete ihren Blick dorthin, wo das Tor offen stand und sie deshalb nach draußen auf das Gelände schauen konnte. Es war noch nicht dunkel geworden, aber dieses Gelände wirkte auch im hellsten Sonnenschein immer düster.
Die alte Fabrikanlage stand zum Abbruch bereit. Sie war auch schon teilweise abgebrochen worden, aber die Ruinen verteilten sich wie düstere Klötze oder unheimliche Wächter, die über alles hinwegschauten.
Hohe Trümmerhaufen sahen aus wie kleine Berge.
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