1264 - Justines Geisel
Dazwischen gab es schmale Täler, durch die man gehen konnte, aber nie auf einem glatten Boden, sondern immer über Steine hinweg, die Stolperfallen sein konnten oder schräg und verkantet aus- dem Boden hervorschauten. Der Wind trieb einen Geruch nach feuchten alten Steinen und Trümmern vor sich her. Es war eine besondere Welt mitten in London und zugleich eine, die von vielen Menschen gemieden wurde.
Justine Cavallo schaute Glenda für einen Augenblick an. Dabei lächelte sie sogar. »Ich werde dich jetzt für eine kurze Weile allein lassen, um einiges zu regeln, aber du brauchst dir keine Hoffnungen zu machen. Von allein kommst du nicht frei.«
»Ja, ich weiß es.«
Als wären die beiden Frauen gute Freundinnen, tätschelte Justine mit ihrer kalten Totenhand die Wange der Gefangenen. »Ich bin gleich wieder da.«
Mehr sagte sie nicht. Alles andere konnte Glenda verfolgen. Sie schaute zu, wie die blonde Bestie auf den Ausgang zuschritt, ohne sich dabei umzudrehen. Sie ging hinaus in das Gelände.
Sie schritt dabei in die Freiheit, die Glenda Perkins fehlte. In einem hatte Justine Recht. Aus eigener Kraft würde sie sich nicht befreien können. Zu fest saßen die Fesseln. Zu stark war der Haken über ihr, der mit einer schmutzigen Kette verbunden war, die nur gedämpft klirrte, wenn die einzelnen Glieder bei irgendwelchen Bewegungen aneinander schlugen.
Es wurde still um Glenda Perkins herum. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, wie hauchdünn ihre Chancen waren. Das war der berühmte seidene Faden, an dem sie hing. Die Arme waren taub geworden, aber die Füße berührten glücklicherweise noch den Boden, denn das Hängen in der Luft wäre zu einer absoluten Folter geworden, die sie nicht hätte aushalten können.
Auch jetzt schaffte sie es, mit großer Willensanstrengung, die Schmerzen zu unterdrücken, aber sie konnte sie unmöglich abstellen, und das genau war das Problem.
Ihr Herz schlug härter und lauter als gewöhnlich. Jeden Schlag bekam, sie mit wie einen Treffer. Es gab Augenblicke, da verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, wenn sich die Schatten zusammenzogen. Aber Glenda riss sich immer wieder zusammen.
Sie sann auch über den Begriff Hoffnung nach. Wer konnte ihr diese denn geben?
John Sinclair? Eigentlich konnte sie auf ihn setzen, aber sie tat es trotzdem nicht, denn sie wusste, dass John hier eine Gegnerin gefunden hatte, die ihm ebenbürtig war. Die blonde Bestie war nicht nur gnaden- und skrupellos, sie war auch mit allen Raffinessen und Wassern gewaschen. Wenn sie John herlockte, dann sicherlich nicht, um einen Austausch durchzuführen. Sein Erscheinen hatte andere Gründe, die zu einem hinterhältigen Plan gehörten. Die Cavallo war von der Macht besessen, und diese Karte spielt sie leider immer wieder aus.
Was würde John tun?
Glenda Perkins versuchte, sich in die Lage des Geisterjägers hineinzuversetzen. Zum einen würde er sie nicht im Stich lassen, das stand fest. Er nicht und Suko ebenfalls nicht. Er würde auch bestimmt davon ausgehen, dass Justines Plan nicht so simpel war wie sie ihm diesen beigebracht hatte. John Sinclair gehörte zu den Menschen, die nachdachten und ihre Erfahrungen gesammelt hatten.
Und so verschwand die Hoffnung bei Glenda nicht, sondern kochte auf kleiner Flamme weiter.
Sobald Glenda ein Gefühl der Entspannung überkam, spürte sie die Schmerzen in den Oberarmen und den Achselhöhlen stärker. Dann hatte sie den Eindruck, als hätten sich dort Ratten mit ihren scharfen Zähnen festgebissen, die überhaupt nicht daran dachten, so schnell wieder zu verschwinden. Sollte sie je hier als normaler Mensch wieder frei kommen, würde sie noch lange an dieser Folter zu knacken haben.
Wieder schaute sie nach vorn und stellte jetzt fest, dass es draußen dunkler geworden war. Die Trümmerhügel waren nicht mehr so konturenklar zu erkennen. Sie hatten sich an den Rändern leicht aufgelöst, und vom grau gewordenen Himmel herab fielen die ersten langen Schatten über das Gelände hinweg.
Jemand bewegte sich zwischen dem Grau der äußeren Landschaft. Glenda konnte die Person nicht genau erkennen, aber es war leider nicht John Sinclair, wie sie sehr bald feststellen musste.
Die Cavallo kehrte zurück. Sie sah anders aus als sonst. Nicht vom Outfit her. Sie hatte sich etwas geholt und schob es vor sich her. Es konnte eine Karre sein oder ein Wagen, wie auch immer. Der Gegenstand jedenfalls war beladen, und seine alten Räder drehten sich unegal. Bei fast
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