1274 - Der Wolf und das Mädchen
dort zu bleiben, bis ich komme. Dort ist sie dann auch sicher.«
»Wenn Sie das meinen.«
Sie streckte mir das zur Hälfte gefüllte Glas entgegen. »Jedenfalls danke ich Ihnen für die Mühe, die Sie wegen meiner Tochter auf sich genommen haben. Es kann auch sein, dass ich etwas überreagiert habe. Jedenfalls muss sie der Bestie entkommen sein und hat sich dann bis London durchgeschlagen. Da kann ich vor meiner Tochter nur den Hut ziehen. Das hätte in ihrem Alter kaum jemand geschafft.«
Verflucht noch mal, es gefiel mir nicht. Es gefiel mir überhaupt nicht, was ich da gehört hatte. Es war alles möglich, das gab ich schon zu, aber es musste nicht so sein. Das kam mir zu glatt vor, und ich fühlte mich an die Wand geredet. Irgendetwas war faul an der Sache.
»Sie können bleiben, wenn Sie wollen, Mr. Sinclair.«
»Mal sehen.«
»So, und jetzt lassen Sie mich bitte allein. Ich muss mich konzentrieren, weil ich die Moderation habe. Außerdem hat mir Manuel noch einige Textseiten mitgebracht.«
»Schon gut. Aber wir sehen uns noch.«
»Bestimmt.«
Ich ging. Sie lächelte nicht, sie schaute mich nur mit einem kalten Blick an, der mir auf keinen Fall gefiel. Sie hatte etwas zu verbergen, und zwar eine ganze Menge.
Ich dachte im Flur noch darüber nach, was mich so gestört hatte. Es war nicht nur allein ihr Blick gewesen, sondern auch ihre Aura, die man mit dem Begriff unnahbar und kalt beschreiben konnte.
Sie war der zum Mensch gewordene Eiskeller geworden.
Ohne viel Gefühl. Oder ohne einen Funken von Gefühl. Das war bei einem Menschen nicht oft der Fall. Sie und dieser Bayonne, das war das perfekte Paar.
Ich verließ die Halle wieder und trat hinaus in die von bunten Lichtern erfüllte Dämmerung. Die Zuschauer an den Tischen bekamen jetzt etwas zu trinken und waren schon gespannt auf das Programm.
Ich konnte mir meinen Platz aussuchen, verdrückte mich in den Hintergrund, wo mich die Kameras nicht erfassten und bekam sogar ein Bier zu trinken.
In meiner Nähe hielt sich das technische Personal auf. Einige von ihnen trugen Kopfhörer. Alle waren im Stress, was mir sehr gelegen kam, denn so beachtete man mich nicht.
Es dauerte nicht mal mehr drei Minuten, da ging der Zauber los. Mehr Licht. Die Band stand im Mittelpunkt, spielte einen Tusch, und von der Seite her huschte Wendy Crane ins Bild.
Sie hatte ihren Auftritt. Sie kam hinter den Büschen hervor. Der Lichtkreis eines Scheinwerfers begleitete sie, und sie wirkte wie eine völlig andere Person.
Ich hatte sie zuletzt als abweisend und kalt erlebt, doch dieses Image hatte sie abgestreift. Sie wirkte jetzt locker, sie lächelte und breitete bei den letzten Schritten ihre Arme aus, als wollte sie damit zwar nicht die ganze Welt umarmen, zumindest aber die Zuschauer in der Nähe.
Eine tiefe Verbeugung neben einem Bistrotisch, der flotte Griff zum Mikro, das gehauchte »Dankeschön«, weil die Leute so geklatscht hatten, das alles gehörte zur Schau, die eine Frau wie Wendy Crane tatsächlich perfekt beherrschte.
Ebenso wie die ersten Worte der Begrüßung. Sie erklärte, wie froh sie darüber sei, wieder moderieren zu dürfen, begrüßte auch die Zuschauer an den Bildschirmen, stellte die Band vor und erklärte dann, dass es viele Überraschungen in der Sendung geben würde, wobei sie nichts verraten wolle.
Manuel Bayonne sah ich nicht. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er den Auftrag bekommen hatte, mich im Auge zu behalten. Vielleicht stand er irgendwo im Hintergrund oder hockte im Regiewagen, um Anweisungen zu geben.
Der erste Künstler sollte auftreten. Es war eine Künstlerin. Eine Soulsängerin aus den USA, noch jung und erst am Beginn ihrer Karriere stehend. Ich hätte ihr wirklich gern zugehört, doch dazu kam es nicht, denn ich wurde abgelenkt.
Obwohl ich abseits stand, war es in meiner Umgebung verhältnismäßig ruhig. Deshalb nahm ich auch aus dem rechten Augenwinkel die Bewegung wahr. Sie veranlasste mich zu einer Drehung.
Ich sah keine Frau, auch keinen Mann, sondern ein Kind, ein Mädchen.
Bisher hatte ich Caroline Crane noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich wusste genau, wer da in meiner Nähe stand…
Nein, ich bekam keinen Schock, das auf keinen Fall. Ich war nur überrascht, dass das Mädchen den Weg hierher gefunden hatte. Eigentlich hätte es doch bei seiner Mutter sein müssen. Dass dies anders gelaufen war, wunderte mich schon.
Ob sie mich gesehen hatte, zeigte sie nicht. Das konnte sein, aber sie kannte
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