1274 - Der Wolf und das Mädchen
blicken.
Die Kameraleute waren dabei, ihre Technik einzurichten. Kellnerinnen schafften Getränke herbei, und ich merkte, dass mein Nebenmann unruhig wurde, denn er trat von einem Fuß auf den anderen.
»Was ist los?« fragte ich.
»Ich muss zu Wendy.«
»Wunderbar. Dann gehe ich mit.«
Er hatte schon den Mund geöffnet, um zu protestieren, doch als er einen Blick in mein entschlossenes Gesicht warf, besann er sich anders. »Gut, ich kann es nicht ändern.«
»Sie können vorgehen«, erklärte ich maliziös lächelnd.
»Ja, gut.«
Er schwitzte. Er war nervös. Wahrscheinlich rechnete er mit Ärger, wenn ich plötzlich mit ihm auftauchte. Ich konnte mir vorstellen, dass Wendy nicht eben vor Begeisterung in die Luft springen würde, aber hier ging es um ihre Tochter, von der wir nach wie vor nichts gehört und gesehen hatten.
Mir reichte dieses einmalige Melden nicht. Ich wollte endlich mehr wissen und auch erfahren, was es mit dem weißen Wolf auf sich hatte. Wir gingen auf eines der Gebäude zu.
Ein Tor stand offen. Es wurde von zwei Lampen umrahmt. Das Licht fiel auch auf die zwei Übertragungswagen, die nicht weit entfernt standen. Ein Mann schrie jemand anderen an, aber darum kümmerten wir uns nicht. Hinter dem Eingang mussten wir eine breite Treppe hoch gehen. Die Wände waren graugrün gestrichen. Das Innere des Baus besaß den Charme einer Eisscholle.
In der ersten Etage lagen die Garderoben. Über einen abgetretenen Linoleumboden hinweg gingen wir an offen stehenden Türen vorbei. In den Räumen hielten sich die auftretenden Künstler auf.
Einige von ihnen lagen flach und konzentrierten sich. Andere hockten auf irgendwelchen Stühlen und schauten ins Leere.
Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, aber keiner von ihnen wirkte locker und lässig wie auf dem Bildschirm.
Vor einer geschlossenen Tür war Bayonne stehen geblieben. Er klopfte kurz, öffnete und ging in den Raum hinein. Ich hielt mich zurück, aber ich wusste, dass er genau der Richtige war, denn ich hörte Wendys Stimme, die nicht eben leutselig klang.
»Da bist du ja endlich.«
»Ja, es ging nicht schneller.«
»Warum nicht?«
»Ich bin nicht allein hier.«
»Was?«
»John Sinclair ist mitgekommen. Tut mir Leid, aber ich konnte es nicht ändern.«
Es war nicht zu hören, wie Wendy Crane reagierte, denn sie musste sich auf mich konzentrieren und bekam große Augen, als ich in der Tür stand und ihr zunickte.
»Dann stimmt das doch.«
»In der Tat.«
»Und was wollen Sie?«
»Denken Sie nicht mal daran, dass Sie noch eine Tochter haben, Mrs. Crane?«
»Das weiß ich.«
»Und Sie haben sich Sorgen um sie gemacht. So große Sorgen, dass Sie mich sogar baten, nach ihr zu schauen. Das habe ich getan, und jetzt fühle ich mich ziemlich an der Nase herumgeführt, wenn ich das mal so milde sagen darf.«
Sie sagte zunächst nichts. Dafür entschuldigte sich Bayonne; der meinen Besuch nicht hatte verhindern können, aber die Frau winkte nur scharf ab. Sie sah anders aus als gestern. Aufgeputzt für ihren Auftritt, denn sie hatte an diesem Abend die Moderation übernommen. Sie trug ein hellrotes, recht enges Sommerkleid. Was oben fehlte, reichte dafür unten fast bis zu den Knöcheln. Ein tropfenförmiger Ausschnitt ließ nicht zu viel sehen. Ohrringe schaukelten an den Seiten, eine Kette lag um ihren Hals, und die Haare waren locker frisiert worden und an einigen Stellen mit irgendeinem Glitzerzeug bestreut.
Sie nickte mir zu und trank dabei einen Schluck Champagner aus einem Sektkelch. Die Flasche dazu stand neben dem Schminkspiegel in einem mit Eis gefüllten Kühler.
»Ja, ich habe mir Sorgen gemacht. Aber jetzt trinke ich auf meine Tochter, Mr. Sinclair.«
»Warum?«
»Sie ist hier.«
Ich wunderte mich über gar nichts mehr. Ich kam mir wirklich verarscht vor und hatte Mühe, meine Fassung zu bewahren.
»Wussten Sie das nicht?«
»Nein.«
»Dann hat meine Mutter vergessen, es Ihnen zu sagen, Mr. Sinclair. Das tut mir Leid. Ich habe ihr extra gesagt, dass sie sich mit Ihnen in Verbindung setzen soll.«
»Dann wissen Sie ja auch, was Caroline erlebt hat.«
»Ja, ja«, sagte sie nickend. »Meine Mutter hat mir davon berichtet. Aber ich habe Probleme, es zu glauben. Wenn ich Zeit habe, werde ich mit Caro reden. Für mich ist sie einfach ausgerissen und per Anhalter nach London gekommen.«
»Dann ist sie bestimmt auch hier?«
»Nein, das ist sie nicht. Ich denke, dass Caro bei mir zu Hause ist. Ich habe ihr geraten,
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