1284 - Templerehre
sich immer weiter zu. Wieder suchte sie nach einem Ausweg, und eigentlich gab es nur eine Möglichkeit für sie. So schnell wie möglich zu fliehen.
»Danke für das Brot und das Wasser. Aber ich muss jetzt gehen. Vielleicht finde ich den Weg noch vor der Dunkelheit.«
»Du bleibst!«
Lisette nickte. Dann schaute sie auf die Frau, die hereingetragen worden war. Man schaffte sie jetzt zu einem Stuhl, auf den sie niedergedrückt wurde. Lisette schaute automatisch hin, und sie erkannte jetzt, dass der Frau Teile der Beine fehlte. Wie weit, das war nicht zu erkennen.
Sie blieb auf dem Stuhl hocken wie eine Puppe. Sie bewegte sich auch nicht und musste gegen die Lehne gedrückt werden, um nicht vom Stuhl zu kippen.
Allmählich dämmerte es Lisette. Sie schluckte, sie wurde noch bleicher, und sie konzentrierte sich so gut wie möglich auf das Gesicht. Erst jetzt dämmerte ihr, dass die Frau nicht mehr am Leben war.
Man hatte also eine Tote hereingetragen und auf den Stuhl gesetzt, als sollte sie eine Warnung darstellen.
»Das ist Anna«, erklärte die Nonne, die Lisette eingelassen hatte. »Und ich heiße Geraldine. Anna war unsere Oberin. Sie lebt nicht mehr. Ich habe jetzt ihre Stelle eingenommen und sage dir, das ich es nicht gern getan habe. Wir alle haben Anna gemocht. Jetzt ist sie tot. Wir haben sie nicht getötet. Es war ein Fremder. Du bist auch eine Fremde, und jetzt kannst du dir denken, dass wir mit Besuchern nicht viel zu tun haben wollen. Die Fremden könnten leicht zusammenhalten und uns infiltrieren wollen. Deshalb bleibe bei der Wahrheit. Sage uns endlich, wer du wirklich bist, verdammt noch mal!«
»Ich heiße Lisette.«
»Das ist schon ein Anfang. Aber du hast dich nicht verlaufen, denke ich mir.«
Lisette wusste, dass ein weiteres Lügen keinen Sinn mehr hatte. Sie war durchschaut worden, und genau das war jetzt ihr Problem. Was sollte sie sagen? Die Wahrheit?
Wenn sie das tat, konnten die Nonnen zu Feindinnen werden, denen sie alles zutraute. Aber das Lügen hatte auch keinen Sinn, und deshalb nickte sie den Frauen zu.
»Ja, ich habe nicht die Wahrheit gesagt. Ich habe mich nicht verlaufen, sondern bin bewusst zu euch gekommen.«
»Was wolltest du hier?«
»Jemanden finden.«
»Wen?«
Jetzt wurde es schon kritisch für sie. Lisette ging davon aus, dass den Nonnen der Name Godwin de Salier nicht fremd war. Aber sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren würden, und das bereitete ihr die großen Probleme.
»Wir wollen eine Antwort!«, flüsterte die Nonne ihr zu. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Ein Blick in die kalten und bewegungslosen Gesichter der vier Frauen reichte Lisette aus, um die Wahrheit zu sagen. Auch wenn sie nicht in der Lage war, irgendwelche Motive zu erklären.
»Ich habe mich mit einem Mann getroffen«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Er heißt Godwin de Salier, und er wollte euch besuchen. Das ist die Wahrheit.«
Die Nonnen schauten sich an. Ihre Haltungen entspannten sich nicht, was Lisette keinesfalls beruhigte.
Würde man ihr glauben?
Geraldine gab wieder die Antwort. Sie war die Einzige, die mit ihr sprach. »Wir kennen keinen Godwin de Salier. Er hat uns keinen Besuch abgestattet. Du hast wieder gelogen.«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Warum nicht?« Die Nonne reckte ihr Kinn vor. »Was sollen wir dir noch glauben?«
»Er wollte wirklich zu euch, verdammt. Er wollte sich bei euch im Kloster umschauen. Es ging um die schlimmen Dinge, die in der Vergangenheit hier geschehen sind.« Sie schloss die Augen und holte tief Luft. »Aber ihr habt Recht. Es stimmt alles. Godwin de Salier ist nicht bis zu euch vorgedrungen. Das habe ich selbst gesehen, und ich kann mich auf meine Augen verlassen.«
»Was ist denn mit ihm geschehen?«, fragte Geraldine. »Warum kam er nicht zu uns? Hat er vielleicht Angst bekommen?«
Lisette ließ sich Zeit mit der Antwort. Als sie dann sprach, klang ihre Stimme sehr leise. »Nein, er hat keine Angst bekommen, nicht er. Nicht Godwin de Salier. Er ist ein aufrechter Mann. Ein Kämpfer, der keine Angst kennt.«
»Dann sag mir, warum er nicht hier ist.«
»Er verschwand.«
Die Nonne gab ein kratziges Kichern ab. »Ach, er verschwand. Einfach so?«
»Ja.«
»Und wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht«, gab Lisette flüsternd zurück. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann es auch nicht rational erklären. Er ist plötzlich weg gewesen.«
Geraldine hob ihre Augenbrauen, die sich kaum von der Haut her abhoben.
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