1284 - Templerehre
dachte darüber nach, was sie jetzt unternehmen sollte.
Sie wollte etwas tun. Lisette war keine Frau, die sich mit den Dingen einfach abfinden konnte.
Viel zu lange hatte sie schon auf dem Fleck gestanden. Lisette wollte zumindest dorthin gehen, wo sich John Sinclair aufgehalten hatte, der jetzt verschwunden war, als hätte es ihn als Person überhaupt nicht gegeben. Er war einfach geschluckt worden.
Der Boden des alten Friedhofs kam ihr plötzlich vor wie die Bespannung eines Trampolins. Sie hatte das Gefühl, dass der Boden vibrieren würde, als wären die alten Skelette dabei, von unten her dagegen zu kratzen. Schreckliche Vorstellungen glitten durch ihren Kopf. So etwas kannte sie sonst nicht, aber die Zeiten hatten sich eben verändert. Ungefähr dort, wo John Sinclair gestanden hatte, stoppte auch Lisette ihre Schritte und erlebte nichts!
Im ersten Moment war sie enttäuscht. Sie hatte wirklich damit gerechnet, etwas zu spüren, das zu ihr rüberkam wie eine Botschaft, aber das war nicht möglich.
Sie stand völlig normal auf einem ebenfalls normalen Platz, blickte nach vorn und schaute trotzdem ins Leere hinein, denn sie brachte das, was sie sah, mit ihren Gedanken nicht zusammen. Die bewegten sich in eine ganz andere Richtung und beschäftigten sich jetzt nicht nur mit einem Mann, sondern gleich mit zwei Männern.
Nicht nur John Sinclair war den Weg gegangen, sondern auch Godwin de Salier, der fast ein Bruder des Engländers hätte sein können. Auch er war verschwunden, und nur sie schaffte es nicht. Wo befand sich der Templer, der sie besucht hatte?
Weg. Abgetaucht. Wie fortgesaugt…
»Das begreife ich nicht«, flüsterte sie. »Das ist mir einfach zu unheimlich. Das ist zu hoch…« Sie lachte über sich selbst, und das Geräusch hörte sich sehr verlegen an. Ein paar Mal schüttelte sie den Kopf, bevor sie die Schultern hob und zu dem Schluss kam, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie hier noch länger auf dem Friedhof stehen blieb und über ihr Schicksal nachdachte.
Es musste noch etwas anderes geben. Sie suchte deshalb nach einem Weg, der sie dem Ziel zumindest ein Stück näher brachte.
Noch einmal erinnerte sie sich an das Gespräch mit Godwin de Salier. Er war nicht zu ihr gekommen, sondern er war erschienen, um das Kloster zu besuchen. Der Zufall hatte sie praktisch zusammengeführt, aber ihm war es nicht gelungen, das Kloster zu betreten. Er war ebenso verschwunden wie John Sinclair.
Das Kloster der rätselhaften und auch unheimlichen Nonnen!
Genau darüber dachte sie nach, und sie brauchte es nicht lange zu tun, denn ihr Entschluss stand innerhalb weniger Sekunden fest. Wenn die beiden Männer es schon nicht geschafft hatten, das Kloster zu betreten, dann wollte sie es tun.
Es musste dort ein Geheimnis existieren, das für beide sehr wichtig war. Und dieses Rätsel konnte sich nur um die Nonnen drehen, die bei den Menschen in der Umgebung alles andere als einen guten Ruf hatten. Man redete flüsternd und ängstlich über sie. Manche sprachen davon, dass sie kleine Kinder grillen würden und sie direkt aus einem Märchenbuch gestiegen waren.
Das alles mochte stimmen, musste aber nicht der Wahrheit entsprechen, und auch Lisette glaubte nicht daran, obwohl auch sie den Nonnen skeptisch gegenüberstand.
Der Weg zum Kloster war nicht besonders weit. Wenn man sich in der Umgebung auskannte, konnte man ihn sogar noch abkürzen. Genau das hatte Lisette vor.
Einen letzten Blick warf sie über das Gelände, das gar nicht wie ein Friedhof aussah. Ein etwas verloren wirkendes Lächeln hatte sich über ihre Lippen gelegt, und sie war mit ihren Gedanken tief in den Erinnerungen verloren.
Ihr drohte keine Gefahr. Und sie würde ihr auch nicht drohen, wenn sie jetzt wieder einen anderen Weg einschlug und zu ihrem Haus zurückging. Das brachte sie jedoch nicht fertig. Wenn Lisette einmal einen Entschluss gefasst hatte, führte sie ihn auch durch, und so blieb sie bei ihrem Vorsatz.
Die Zauberin war auf der Hut. Sie hatte kein Problem, in Deckung zu bleiben, die gab es hier überall.
Buschwerk und Bäume gaben genügend Schutz, und wer vom Kloster her nach draußen schaute, musste schon sehr genau hinsehen, um sie zu entdecken.
Irgendwie machte sich Lisette auch Hoffnungen, während ihres Wegs auf John Sinclair und Godwin de Salier zu treffen, doch nach kurzer Zeit gab sie diese Hoffnungen auf. Sie musste sich weiterhin durch die Stille schlagen, die nur vom Summen der Insekten unterbrochen
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