1284 - Templerehre
Sie machte den Eindruck einer Frau, die nichts glaubte, und sie drehte sich mit einer langsamen Bewegung zu ihren Mitschwestern hin um. »Habt ihr das gehört? Vertraut ihr ihr? Sagt sie die Wahrheit?«
Die Antwort bestand aus einem allgemeinen Kopfschütteln.
Geraldine lachte meckernd. »Du hast es genau gehört«, erklärte sie dann. »Niemand ist da, der dir glaubt, und das ist auch bei mir der Fall, denn ich glaube dir ebenfalls nicht. Du willst uns hier etwas erzählen und uns einlullen. Aber nicht mit uns, und deshalb wirst du bei uns bleiben. Eine Geisel kann in bestimmten Momenten immer gut sein, das solltest du mir glauben.«
Lisette wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie rief nur noch: »Aber ich habe die Wahrheit gesagt!«
»Nein!«
Eine endgültige Antwort. Hart und brutal. Eine Antwort, die keinen Widerspruch mehr duldete. Lisette brauchte nur den Blick der Augen zu sehen, um zu erkennen, wie die Nonne zu ihr stand. Deshalb gab es nur noch die Möglichkeit der Flucht. Dass ihre Neugierde sie in diese Lage hineingebracht hatte, darüber wollte sie nicht mehr nachdenken. Wichtig war es, von hier zu verschwinden.
Aber sie wollte die Frauen, die für sie alles andere als Nonnen waren, noch täuschen. Ergeben hob Lisette die Schultern und sagte sehr leise: »Wenn das so ist, dann…«
Kein Wort mehr. Dafür eine wilde Bewegung. Sie hörte die wütenden Schreie, doch darum kümmerte sie sich nicht, denn ihr Ziel war die Tür, und das wollte sie erreichen.
Lisette war nicht mehr die Jüngste, aber sie war noch einige Jahre jünger als die Nonnen, die es nicht mehr schaffen würden, sie einzuholen.
Die Tür war nicht weit entfernt, aber sie war wieder zugefallen. Trotzdem gab es nur diesen einen Weg.
Die kurze Strecke kam Lisette plötzlich so lang vor. Jede Sekunde zählte jetzt das Doppelte. Hinter ihrem Rücken hörte sie die Schreie der Nonnen, war trotzdem noch vor ihnen an der Tür und riss sie auf.
Der Weg nach…
Nein, es war nicht möglich! Sie schrie, als sie stehen blieb und trotzdem gegen die Gestalt schlitterte, die vor der Tür gewartet hatte und sie abfing.
Es war der Rote Mönch!
Arme legten sich wie stählerne Klammern um ihren Körper. Sie pressten sich so eng an sie, dass es Lisette kaum mehr gelang, normal Luft zu holen. Von einem Augenblick zum anderen war sie vom Himmel in die Hölle gerutscht und nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen, weil der Druck der Arme einfach zu fest war.
Lisette wollte schreien, und sie hatte schon ihren Mund geöffnet, doch der Schrei blieb im Ansatz stecken, als ihr richtig bewusst wurde, wer sie da mit seinen Krakenarmen umklammert hielt.
Der Rote Mönch! Das Schlimmste, was ihr überhaupt passieren konnte. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie hatte das Gefühl, alles zu verlieren, an dem sie sich bisher noch hatte festhalten können, und sie kam sich vor, als würde sie trotz der Umklammerung davon schweben.
Die Kleidung des Mannes verschwamm vor ihren Augen zu einem wahren Blutsee. Sie fasste keinen klaren Gedanken mehr, aber sie spürte, wie der Rote Mönch sie mit einem heftigen Ruck anhob, so dass sie eine Sekunde später über dem Boden schwebte.
Das erinnerte sie wieder an die Person, die von den beiden Frauen hineingetragen und auf einen Stuhl gesetzt worden war. Sie dachte auch daran, dass die Frau tot gewesen war, und plötzlich schwebte dieses Schicksal auch dicht vor ihr.
Der Mönch drückte seinen rechten Fuß vor. Er stieß damit gegen die Tür, die sich noch weiter öffnete.
So bekam er freie Bahn, und er ließ Lisette nicht los, bis er eine bestimmte Stelle erreicht hatte, wo er sie auf den Boden stellte.
Lisette war so schwach geworden, dass sie es kaum schaffte, sich auf den Beinen zu halten. Sie kippte nach vorn, doch sie fiel nicht zu Boden, weil Geraldine sie abfing. Ihr Mund befand sich für einen Moment dicht neben Lisettes Ohr, und die Frau hörte das scharfe Flüstern.
»Ich denke schon, dass du uns jetzt die Wahrheit sagen wirst, Lisette. Weißt du, wer er ist?«
»Ja, das weiß ich. Er und seine Mitbrüder waren vor euch hier im Kloster. Aber das ist lange her und…«
»Nein, Lisette, sprich nicht davon, dass er tot sein muss. Manche Menschen sind eben so stark und stehen unter einem so großen Schutz, dass sie es schaffen, selbst den Tod zu überwinden. Das solltest du dir immer vor Augen halten.«
Lisette wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie hatte das Gefühl, etwas völlig Fremdes zu
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