1284 - Templerehre
erleben. Etwas, das es in dieser Welt nicht gab und auch nicht geben durfte.
Tote, die längst vermodert hätten sein müssen, aber noch am Leben waren. Nonnen, die sich wie Verbrecherinnen verhielten, und Menschen, die einfach verschwanden.
Geraldine stieß die Frau wieder von sich. Lisette taumelte zurück. Niemand fasste sie in diesen Augenblicken an. Ihre Freiheit dauerte kaum zwei Sekunden, da hatte der Mönch sie wieder in der Gewalt und warf sie mit einer schnellen Drehbewegung zu Boden.
Lisette erlebte einen harten Aufprall und glaubte plötzlich, gelähmt zu sein, weil sie auf dem Rücken lag und sich nicht bewegen konnte. Sie saugte die Luft ein und merkte, dass sie beim Einatmen Schmerzen bekam, aber sie lebte noch, war nicht gelähmt und wurde von zwei Nonnen zugleich wieder auf die Beine gezogen.
Lisette bückte sich. Gerade und aufrecht konnte sie nicht stehen. Der Rücken brannte einfach zu stark, und sie wusste, dass sie am Ende war und sich nicht mehr wehren konnte.
Obwohl man sie festhielt, schwankte sie hin und her. Die Augen hielt sie trotzdem offen, denn sie wollte sehen, was sich vor ihr abspielte. Viel hatte sich nicht verändert. Nur die Tatsache, dass jetzt der Rote Mönch das Kommando übernommen hatte, denn er stand wie ein Stück Mauer vor ihr, und sie erkannte nun, dass er etwas in seiner rechten Hand hielt.
Es war der kurze Griff einer Peitsche. Im Gegensatz zu ihm war die Schnur mehrmals so lang. Er hatte sie zusammengerollt und hielt sie wie ein Lasso fest.
Lisette war zwar durcheinander und innerlich stark aufgewühlt. Trotzdem wusste sie, was diese Waffe zu bedeuten hatte, und sie starrte nur die Peitsche an.
Eine Bewegung mit der rechten Hand. Sie sah aus, als wollte der Mann seinen Kuttenärmel ausschütteln.
Er löste auch seine Hand von dem Riemen, der nach unten fiel, sich dabei aufrollte und mit einem klatschenden Laut gegen den Boden prallte.
Dann trat der Mönch zurück!
Die Nonnen bewegten sich ebenfalls. Keine von ihnen wollte in der Nähe der Zauberin bleiben. Lisette stand ganz allein, und sie kam sich so schrecklich allein gelassen vor. Wie Frost durchzog die Angst vor der Zukunft ihren Körper und machte sie bewegungsunfähig.
Nicht so der Mönch. Wieder bewegte er seine rechte Hand nur kurz.
Urplötzlich geriet die Peitschenschnur in Bewegung. Sie zuckte vom Boden her in die Höhe, wischte auf ihr Ziel zu, und Lisette sah sie nur als Schatten.
Dann spürte sie den Aufschlag. Schreien konnte sie nicht, denn die Schnur wickelte sich mit rasender Geschwindigkeit um ihren Hals…
***
Suko betrat das Verlies mit vorsichtigen Schritten und glaubte, ersticken zu müssen. Der Gestank, der ihm entgegenwehte, war unbeschreiblich. In der Bibliothek hatte er nichts gerochen oder nicht darauf geachtet, jetzt aber raubte ihm dieser Gestank den Atem. Er blieb stehen und richtete sich aus seiner geduckten Haltung auf. Die Decke war hoch genug, sodass er mit seinem Kopf nicht dagegen stieß.
Es gab hier nicht nur den Gestank, es war auch verdammt stickig in diesem kleinen Raum. Die Mauern hielten dicht, obwohl sie schon alt waren, und nicht der leiseste Windzug hatte die Chance, durch das Verlies zu streifen.
Suko griff in die Tasche und holte seine kleine Leuchte hervor. Er drehte an der Mündung, sodass der Strahl sich wie ein Fächer verbreiterte und große Teile des Verlieses ausleuchtete.
An den Wänden malte sich die Nässe ab. Es sah aus, als liefe sie in langen Streifen von oben nach unten. Das alte Wasser füllte auch die Risse aus, und an den weniger feuchten Stellen huschten Käfer aus der Helligkeit weg.
Das alles störte den Inspektor nicht. Es sorgte auch nicht für den Gestank, denn der stammte von einem anderen Gegenstand, der seinen Platz auf dem unebenen Steinboden gefunden hatte. In dessen Poren hatte sich ebenfalls die Feuchtigkeit angesammelt, aber auch nasses Moos klebte in den Ritzen.
In der Mitte stand der Kopf!
Er sonderte den Gestank ab, obwohl er eigentlich schon längst hätte verwest sein müssen. Der Geruch war nicht zu identifizieren. Möglicherweise passte der Begriff Verwesung, doch da war Suko sich auch nicht sicher.
Sehr dicht blieb er vor dem Kopf stehen. Er bückte sich und strahlte ihn an. Das helle Licht traf ihn von vorn - und erwischte seine Augen.
Suko schaute direkt in die Augen hinein und entdeckte darin das helle Glitzern, als hätte sich im Laufe der Zeit Wasser angesammelt.
Lebten die Augen?
Er wusste es nicht und
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