1288 - Das Barbarentor
sich Istra Feta mit ihren Gästen bis in den Tempel vor, in dem ein kleiner, unscheinbarer Priester mit seiner Predigt begonnen hatte. „Ropha Kherthrai", flüsterte Istra Feta. „Er wird von allen verehrt wie ein Heiliger. Er wagt es wie kein anderer, den Somern entgegenzutreten und ihnen die Wahrheit zu sagen. Er hat die Angst überwunden. Ihn kann selbst der Tod nicht schrecken, denn der Tod ist kein Ende für ihn."
Ronald Tekener blickte Roi, Jennifer und Demeter an, und er sah, dass es ihnen erging wie ihm. Sie waren enttäuscht. Dieser kleine, unscheinbare und nervöse Priester sollte einen so großen Einfluss auf das Volk der Mlironer haben? Ihn verehrten sie wie einen Heiligen, obwohl er doch so gar keine Ausstrahlung zu haben schien? Ihm wagten die Somer nichts zu tun, obwohl er doch einen nahezu hilflosen Eindruck machte, noch nicht einmal eine kraftvolle Stimme hatte? „Glaubt nicht den Lügen, die. das Heraldische Siegel verbreitet", sagte Ropha Kherthrai, und seine Stimme durchdrang den Tempel bis in den letzten Winkel hinein, obwohl er keineswegs laut sprach. Die Menge verharrte in atemlosem Schweigen. Sie lauschte den Worten dieses Mannes, als habe sie einen solchen Bericht noch niemals zuvor vernommen. Dabei schien sicher zu sein, dass der Priester die Wahrheit nicht zum erstenmal heute verbreitete. „Wir Mlironer kannten die Raumfahrt schon, als die Somer unsere Welt besetzten", rief Ropha Kherthrai der Menge zu. „Wir haben keineswegs wie Wesen gelebt, die dem Tier näher waren als der Intelligenz. Wir waren bereit, den Schritt in die Unendlichkeit der Sterne zu tun, den Kosmos zu erobern, in das Sternenmeer einzutreten und anderen Sternenvölkern als freie Menschen zu begegnen." Der kleine, unscheinbare Mann auf der Kanzel schien über sich selbst hinauszuwachsen. Er schlug die Mlironer in seinen Bann, obwohl er keineswegs ein überragender Redner war. Es genügte, dass er etwas auszusprechen wagte, was in klarem Gegensatz zu den Aussagen der Somer stand. „Die Somer eroberten Mliron im Namen der Ewigen Krieger", fuhr Ropha Kherthrai fort. „Sie verschleppten und versklavten Männer, Frauen und Kinder unseres Volkes. Wer sich nicht unterwerfen wollte, bekam die Macht der Somer zu spüren. Die Somer trieben alle, die gegen sie waren, systematisch in die Sklaverei und versuchten dann erneut, sie zu Kodextreuen zu machen. Aber das gelang ihnen nicht, weil der Freiheitsdrang, der Freiheitswille und die Eigenständigkeit der Mlironer stärker war." Ein Raunen ging durch die Menge. Damit zeigte sie zum erstenmal eine emotionelle Reaktion. Doch sie dauerte nur kurz, dann wurde es wieder still im Tempel. Niemand wollte sich auch nur ein Wort des Priesters entgehen lassen. „Sie wagen es nicht, Ropha Kherthrai umzubringen oder zu verschleppen", wisperte Istra Feta Tekener zu. „Sie wissen, dass sie dann das ganze Volk gegen sich hätten."
„Das Heraldische Siegel berichtet nicht von den Freunden und Verbündeten, die wir Mlironer hatten", fuhr der Priester fort. „Kein Wort von jenen, die uns im Kampf gegen die Somer unterstützten. Das war früher anders. Damals hatten die Somer ihnen die Schimpfnamen Gorims verliehen - und jeder von euch weiß, dass Gorims die von allen verachteten Aasfresser der großen Savannen sind. Doch die Gorims waren anders. In den alten Büchern, die die Somer verzweifelt suchen, und die sie niemals finden werden, gibt es Berichte über die Gorims, in denen deren Heldentaten geschildert werden, in denen beschrieben wird, welch edle Freunde sie uns waren. Deshalb ist Gorim kein Schimpfwort für uns und wird es niemals sein."
Demeter bemerkte, dass einige Frauen zu weinen begannen. Sie beobachtete, wie ihnen die Tränen über das Gesicht rannen. Sie wusste nicht, warum die Frauen weinten. Sie glaubte, dass sie es taten, weil der Priester sie mit seinem Mut beeindruckte, beschämte und rührte. „Die Gorims haben einen Stützpunkt auf unserem Planeten errichtet, und sie haben sogar Männer und Frauen unseres Volkes für den Kampf gegen die Kodexkrieger ausgebildet." Ropha Kherthrai breitete die Arme aus, und ein Lächeln ging über sein schmales Gesicht. „Er trägt ein Makeup", stellte Demeter verwundert fest. „Warum schminkt er sich so stark?" Istra Feta beugte sich zu ihr herab. „Weil sie ihn gefoltert und verprügelt haben", erwiderte sie mit tonloser Stimme. „Ich habe ihn ungeschminkt gesehen. Sein Gesicht ist völlig zerschunden. Man würde ihn nicht
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