1292 - Die Blutbrücke
vertrauen. Und jetzt lassen Sie mich bitte telefonieren.«
»Klar, tun Sie das.«
Harry Stahl konnte John nicht erreichen. »Leer«, kommentierte er murmelnd.
»Das Handy?«
»Nein, die Leitung.«
»Und jetzt?«
Harry runzelte die Stirn. Er wusste auch nicht so recht, was er sagen sollte. »Das ist natürlich nicht ganz einfach. John kann das Handy abgestellt haben, aber das glaube ich nicht. Er weiß ja, dass er erreichbar bleiben muss.«
Heiko pustete die Luft nach oben. Er schielte auf seinen Bildschirm und wartete darauf, eine Mail zu bekommen, doch auch dort tat sich nichts.
»Und Sie wissen nicht, wie Sie Ihre Freundin erreichen können, Heiko?«
»Nein, sie hat mir keine Nummer genannt. Aber sie weiß meine, und das müsste reichen…«
Es reichte auch. Als hätte er es herausgekitzelt, meldete sich plötzlich das normale Telefon und mit einer etwas schrillen Melodie, sodass Harry zusammenschrak.
»Ha, das wird sie sein«, erklärte Heiko. Sekunden später hatte er abgehoben, und sein Gesicht hellte sich auf. »Hi, das ist super. Du glaubst nicht, wie ich auf deinen Anruf gewartet habe.« Er hörte zu und sagte dann: »Ach, zu zweit seid ihr. Und schon im Lande?« Wieder das Zuhören.
Jetzt horchte auch Harry auf. Er beobachtete Heiko Fischer, dessen Miene sich eintrübte. »Gut, ja, verstehe. Ihr werdet bei mir vorbeikommen. Okay, ich sage euch die Adresse.« Er gab sie durch, und danach war das Gespräch schnell vorbei.
»Das war wohl nichts - oder?«, fragte Harry.
Eine Hand legte den Hörer wieder auf. »Ich weiß auch nicht, was in die beiden gefahren ist. Sie befinden sich in Baden-Baden, aber sie sind bereits auf der Fahrt zum Ziel. Sie wollen auf dem direkten Weg zur Blutbrücke.«
»Das hat natürlich einen Grund, und den würde ich gern wissen«, sagte Harry Stahl. »Bisher haben Sie noch nicht gesagt, was Ihnen genau widerfahren ist. Ihren Reaktionen entnehme ich nur, dass es kein Spaß war.«
»Das war es wirklich nicht.«
»Bitte, dann sprechen Sie.«
Es fiel ihm schwer. Er musste die Gedanken sortieren. Er knetete dabei auch seine Hände, und die ersten Worte brachte er nur stockend über seine Lippen, wobei er darum bat, dass man ihm doch bitte glauben sollte, auch wenn es sich unwahrscheinlich anhörte.
»Keine Sorge, ich bin ein geduldiger Zuhörer.«
Was Harry dann hörte, das strapazierte seine Geduld schon ein wenig, denn es hätten auch die Fantasien eines krankhaften Menschen sein können, die Heiko Fischer hier zum Besten gab. Er sprach von unheimlichen Geschöpfen, die man nur mit dem Begriff Monster umschreiben konnte. Er berichtete, dass die Buchstaben plötzlich blutig rot geworden und zerlaufen waren, und er sprach auch davon, dass ihn Krallenhände im Gesicht erwischt hatten.
Letzteres glaubte Harry ihm aufs Wort, denn die roten Striemen waren noch nicht verschwunden.
»Ich konnte dann nicht mehr. Ich bin zu Boden gefallen, ich wollte auch nicht hoch. Ich hatte wahnsinnige Angst, wie noch nie in meinem Leben. Ich dachte daran, sterben zu müssen, aber dann wurde alles anders, weil Sie gekommen sind.«
»Ja, zum Glück.«
»Glauben Sie mir denn?«, fragte Heiko und verzog seinen Mund so breit wie möglich. »Oder meinen Sie, dass ich ein Spinner bin, der einfach nur Mist daherredet?«
»Nein, Heiko, das glaube ich nicht. Ich weiß, dass Sie die Wahrheit sagen.«
»Aber wenn ich das einem Polizisten erzählt hätte, der hätte mich sofort zur Untersuchung geschickt. Der Neurologe und die Zelle wären mir möglicherweise sicher gewesen. Aus diesem Blickwinkel müsste man das doch auch sehen - oder?«
»Müsste man. Viele werden es auch so sehen.« Harry schaute zum Fenster. Dahinter breitete sich allmählich die Dämmerung aus. Es war für den jungen Mann natürlich eine Enttäuschung, dass sich seine Freundin auf den Weg zur Blutbrücke gemacht hatte und nicht sofort bei ihm vorbeigekommen war, aber auch er hatte einen Freund, und der hieß John Sinclair. Der reagierte oft genug unkonventionell, und so lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass er ebenfalls direkt zur Blutbrücke gefahren war.
Das fand er nicht heraus, wenn er hier in der Wohnung blieb. Er musste wieder zur Blutbrücke fahren.
»Dann werde ich wohl fahren«, murmelte er.
»Zur Brücke?«
»Genau!«
»Da will ich mit!«
Harry brauchte nur einen Blick in die Augen des jungen Mannes zu werfen, um zu erkennen, wie ernst es ihm war.
Stahl nickte. »Gut, dann fahren Sie mit. Aber
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