1292 - Die Blutbrücke
Die Spanne nutzte ich aus und holte mein Kreuz hervor.
Er sah das Kreuz! Er schrie! Nein, das war kein normales Schreien wie von einem Menschen. Mir schrillte ein hohes Jaulen entgegen, das meine Ohren malträtierte. Es klang so dünn. Ich verglich es mit einem Ton, den ein Metallgegenstand hinterlässt, wenn er über Glas schabt.
Der Anblick des Kreuzes traf ihn tief. Er jagte ihm eine höllische Angst ein, es war eben die Urangst des Wiedergängers vor dem endgültigen Vergehen. Für ein Monster wie ihn gab es auch keine Rettung. Das Kreuz würde ihn verbrennen, vernichten, zu Staub zerfallen lassen, wie auch immer.
An Flucht dachte er möglicherweise, aber er schaffte es nicht, den Gedanken in die Tat umzusetzen.
Er blieb an dieser Stelle stehen. Er klebte förmlich mit dem Rücken an der Wand, aber er hatte seine Hände hochgerissen und vor sein Gesicht gedrückt.
Einen Schritt ging ich auf ihn zu.
Wieder jaulte er mich an. Zwischen seinen Händen gab es Platz genug. Seine Augen waren verdreht.
Die irrsinnige Angst vor der endgültigen Vernichtung hatte ihn überfallen.
Dabei wollte ich es vorerst belassen und berührte ihn deshalb nicht. Allein die Nähe war für ihn wie eine Folter. Er wand sich, er litt unter Schmerzen, und auch weiterhin drangen Urlaute aus seinem Mund.
Das Kreuz lag in meiner Hand. Ich hatte mich an die Wärme gewöhnt, denn sie gab mir ein gutes Gefühl. Ein Windstoß erwischte das Fenster und stieß es ganz auf. Der Wind wehte auch weiterhin in den Hinterhof hinein und erzeugte dort jaulende Geräusche, wenn er um die Ecken des alten Hauses strich.
»Kannst du mich verstehen?«
Ob er nickte oder den Kopf schüttelte, war nicht genau zu erkennen. Jedenfalls hatte er gehört, dass er angesprochen worden war, und das gab mir ein wenig Hoffnung.
»Wer hat dich geschickt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wer?«
Die Hände blieben vor seinem Gesicht. Sie sahen aus wie graue Pranken, die jeden Augenblick zusammenfallen konnten. Ich bekam auch eine Antwort mit, doch sie war nur als Gemurmel zu verstehen und wurde noch von einigen Würgelauten verzerrt.
Was tun? Näher herangehen?
Nein, das wäre nicht gut gewesen. Er wäre zu sehr in den Einflussbereich des Kreuzes hineingeraten und wahrscheinlich auch vergangen. So blieb mir nur die Chance, zu hoffen, dass er es sich überlegte und seinen Mund aufmachte.
Ich ging zurück. Die Wirkung des Kreuzes nahm ab, und das musste er einfach merken. Es dauerte wirklich nur wenige Sekunden, da reagierte der Blutsauger. Seine Hände rutschten am Gesicht entlang nach unten. Da er die Finger etwas gekrümmt hielt, drückten die Spitzen der Nägel in seine graue Haut, auf der sie hellere Streifen hinterließen.
Die Unruhe in seinen Augen war nicht zu übersehen. Sie bewegten sich hektisch. Ich wusste, dass er nach einem Ausweg suchte.
»Da ich glaube, dass du mich verstehst, wäre es besser, wenn du redest. Sonst…«
Er schrie! Und dieser Schrei überraschte mich. Er war so grell, so hoch, so schrill und nicht mal laut, aber er füllte das verdammte Zimmer aus, und ich suchte nach dem Grund.
Den sah ich nicht, aber ich hörte ihn. Hinter meinem Rücken entstand ein hartes und zugleich dumpfes Geräusch. Jemand war auf den Boden gesprungen.
Ich fuhr herum. Ich wusste Bescheid. Der Vampir hatte mich durch seine Schreierei ablenken wollen.
Jetzt bedauerte ich, dass ich meine Lampe nicht mehr in der Hand hielt.
Der zweite kam. Ich sah ihn als schnell heranhuschenden Schatten, der den Möbelstücken nicht auswich, sondern über einen Tisch hinwegsetzte und auf mich zusprang.
Das zweite Geschöpf hatte nur meinen Rücken gesehen. Es wusste nicht, was ich in der Hand hielt.
Und als er es sah, da war es für ihn zu spät. Denn nicht nur ich drehte mich, auch das Kreuz machte die Drehung mit. Da ich den Arm nach vorn gestreckt hielt, kam es wie es kommen musste. Die blutgierige Gestalt sprang gegen meine vorgestreckte Hand und damit auch gegen das Kreuz.
Ich hatte durch meine Stellung für eine genügende Standfestigkeit gesorgt, sodass mich der Aufprall nicht nach hinten trieb. Der Vampir wollte sich an meiner Schulter festklammern. Er schaffte es auch für einen Moment, dann erwischte ihn die geballte Kraft des Kreuzes.
Er schrie nicht. Plötzlich war das Licht in ihm. Ich sah ihn fast durchsichtig vor mir, glaubte sogar, die Knochen zu erkennen, und dann erlebte ich, dass dieses Licht die verheerende Kraft des Feuers besaß, denn die Gestalt
Weitere Kostenlose Bücher