13 alte Esel
dafür.
»Ich hatte mich nur erkundigen wollen, was unsere Kinder im Religionsunterricht machen«, erklärte Don Chaussee wahrheitsgetreu. Verbrecherkinder — es ließ ihm keine Ruhe. Es war ein furchtbares Wort.
»Wenn Sie warten wollen... ?«
»Gern.«
Lisbeth Winkelmann war in Aussehen und Gebaren altmodisch, nicht lächerlich altmodisch, nur irgendwie gar nicht modern. Es fiel sogar Don Chaussee auf. Hausschneiderin, solider Stoff, gestärkte Spitzen am Ärmel, Lavendelbeutelchen im Wäscheschrank. Seit dreißig Jahren die gleichen alten Leute, die auf der Treppe im Flur ihre Suppe löffelten. In der Küche sicher die dritte Generation Hausmädchen: Die Mütter heirateten jung, und die Töchter kamen jung wieder »in Dienst« zu Fräulein Lisbeth. Oder sah es nur so aus? Sie konnte gar nicht so alt sein.
Geräuschlos huschte sie ihm durch den dämmrigen Flur voran in ein dämmriges Wohnzimmer aus braunrotem, abgeschabtem Plüsch. Die Wand war mit einer Streifentapete bedeckt. Unter der Perlschnurlampe stand ein polierter Tisch mit vier hochbeinigen Stühlen und einer Häkeldecke, am Fenster ein ausgebeulter Sessel und das Nähtischchen, daneben ein tiefes Sofa mit bestickten Kissen, ein Kirschbaumvertiko, ein Pfeifenständer mit vielen langen Pfeifen und einem holländischen Tabakstopf aus Porzellan mit blauen Mustern, an der Längswand ein Harmonium mit schwenkbaren Kerzenhaltern. Neben der Tür baumelte als Schellenschnur eine gestickte breite Borte, die in einer mächtigen Quaste endete.
Don Chaussee ließ sich ins Sofa sinken, und mit dieser Bewegung schien er völlig der Gegenwart zu entgleiten. Den Sombrero auf den Knien, sog er den Hauch von Flieder und Pfeifenrauch ein, der aus den Polstern strömte; er blickte zu Fräulein Lisbeth hin, die sich mit feiner altmodischer Behendigkeit bewegte, als sie dem Vertiko Kristallkaraffe und Gläschen entnahm und ihm auf einem silbernen Tablett einen Anisette servierte, und das Gefühl eines schmerzlichsüßen Friedens zog durch ihn hin. Er hatte nie ein anderes Zuhause gekannt als das Waisenhaus; nun wußte er mit einemmal, was die Menschen meinten, wenn sie »Großmutter« sagten. Kein Raum hatte ihn jemals so eingesponnen in schwebende Zeitlosigkeit.
Verwunderlich war nur, daß Fräulein Lisbeth beileibe keine Großmutter war, sich auch nicht großmütterlich benahm. Wie alt sie sein mochte? Das Anisetteglas, an dem er unwillkürlich nur behutsam nippte, zwischen den Fingern drehend, versuchte er zu schätzen. Es war schwierig — es konnten dreißig, es konnten auch fünfzig Jahre sein. Das stille, ovale Gesicht mit den warmen, braunen Augen, die seinen Blick aufmerksam, aber nicht aufdringlich beantworteten, verriet es nicht, und das schlichte, am Hals hochgeschlossene Kleid war zeitlos unauffällig. Zeit — schon das Wort glitt an ihr ab, traf nicht auf sie zu. Vielleicht war es nur dieser Hauch von stillstehender Zeit, der ihn an Großmütter und unendliches Behütetsein denken ließ? Sie hatte sich in den Sessel am Fenster gesetzt und strich mit leichter Geste den Rock glatt, ehe sie die Hände im Schoß faltete. Don Chaussee nippte wieder, glücklich versunken in die Stille.
Erst als auf der Uhr über dem Harmonium ein Türchen aufklappte und ein winziger Kuckuck hell und knapp die volle Stunde ausrief, fuhr er hoch, schuldbewußt und verlegen lächelnd. Fräulein Lisbeth aber lächelte heiter zurück, offensichtlich ohne es ihm im geringsten übelzunehmen, daß er fast zehn Minuten lang geschwiegen hatte. Sie schien gelassen Zeit zu haben, und auch das kam Don Chaussee wohltuend altertümlich vor.
Sie sprach wenig, und von Frau Martha sprach sie zurückhaltend, mit einer zögernden, etwas kühlen Achtung, die eigentlich nicht zu ihrem sanften Wesen paßte. Oh, eine tüchtige, praktische Frau, die regelmäßig zum Gottesdienst komme und auch die Kinder dazu anhalte, gewiß. Sonst sehe man sich wenig. Sie scheine sich nicht als zum Dorf gehörig zu fühlen, was ja für eine Städterin schließlich nicht verwunderlich sei, meinte sie, die Schultern fast unmerklich hebend.
Als Don Chaussee sich erkundigte, was sie denn von den Kindern halte, errötete sie unvermittelt und scheinbar ohne Ursache: Von Kindern verstehe sie nichts, wirklich nicht, nein. Und sie hob fast abwehrend die Hand. Es erstaunte ihn ein wenig. Auf der Fensterbank wucherte eine Fülle von Grün und Blüten, ein Kanarienvogel pfiff. Blumen, Tiere — und keine Kinder?
Ja, Blumen
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