13 kleine Friesenmorde
den riesigen Schornstein, auf dem die Wildgans mit vorgestrecktem Hals in Blau und Gelb zu fliegen schien. Aus der Ferne drang das Positionslicht eines Frachters, der einsam durch die Nacht zog, zu ihm durch.
Der Kommissar ging zum Heck. Die Fahne hing lau im Wind, und das Meerwasser sprudelte, gequirlt von den Propellern, schaumig davon. Niemand war um ihn. Die Sterne standen, wo sie ewig gestanden hatten.
Der Kommissar dachte an Iris Melchior, die hier an Bord aus dem Diesseits gerissen worden war.
In die Stille drang ein schriller Schrei. Ihm kam es vor, als er sich lauschend vorbeugte, als wäre er abrupt abgerissen.
Torfner fühlte eine Gänsehaut, die ihm über die Arme kroch. Er schnellte zur Seite und lauschte. Er vernahm nur den Summton der Maschinen und das Brodeln des Wassers.
»Das war oben!«, durchfuhr es ihn.
Er hastete drauflos. Flink nahm er die Stufen, dann sah er eine Männergestalt im Schatten des Schornsteines davonhasten.
Backbord, in der Ecke des Windschutzes, unter angestrahlter Wildgans, lag etwas Dunkles auf dem kalten Stahlboden, auf das kein Licht fiel.
Torfner entschied sich blitzschnell für dieses Ziel und ließ den Mann entkommen. Unterhalb der auf der Deckkante schräg aufgesetzten Windschutzumrandung aus Plexiglas lag ein Mädchen. Er bückte sich und sah, dass ihr Unterleib entblößt war. Der dicke Wollrock bildete wellige Falten.
Der Atem des Mädchens drang ihm abgehackt und röchelnd entgegen. Die Augen waren glasig und stierten geradeaus. Er roch den Alkohol, den es ausatmete. Mit ein paar Schlägen auf die Wangen versuchte er, es wieder zu Verstand zu bringen. Doch der Blick blieb starr.
Der Kommissar überlegte in Sekundenschnelle. Fallser die Mannschaft zuhilfe rief, lag sie alleine hier auf dem Deck.
Er hob das Mädchen hoch. Es stand schwankend, während der Schlüpfer ihr um die Knie hing.
»Verdammt!«, fluchte Torfner, als er das Mädchen an seine Brust lehnte und ihr den Slip hochzog. »Wenn jetzt jemand zusieht!«
Er schleppte das Mädchen, das wie leblos an ihm hing, über das Deck und jonglierte es wie ein Artist über die Treppen nach unten.
Schwitzend stand er schließlich vor dem Sanitätsraum. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Vergeblich. Ein Offizier, auf routinemäßigem Kontrollgang, lief auf ihn zu.
»Wir kommen!«, rief er, als er um die Ecke des Ganges davonschoss.
Torfner schob das lange dunkle Haar beiseite, das sein Kinn berührte. Das Mädchen lag mit ihren jungen Brüsten auf seinem Arm und lallte.
Den Kommissar durchfuhr ein Gefühl der Erleichterung, als Dr. Mann mit offener Uniformjacke durch den Gang eilte. Hastig öffnete er die Tür der Sanitätsstation. Sie legten das Mädchen auf den OP-Tisch. Dr. Mann schaltete die Strahler an. Er zog ihre Augenlider nach unten und horchte ihren Puls ab. Dann sagte er: »Zu viel Alkohol und Schock!«
Der Kapitän erschien. Er war mächtig aufgeregt. Seine Gedanken überschlugen sich in Hektik.
Dr. Mann sagte beruhigend: »Das Kind ist außer Lebensgefahr. Ich bekomme es wieder hin.«
Torfner berichtete, wie er das Mädchen gefunden hatte.
Kapitän Petersen wischte sich den Schweiß von derStirn. Er war immer noch nervös, als er zu Torfner sagte: »Ich danke Ihnen! Kommen Sie mit in mein Büro.«
Der Kommissar folgte Petersen. Der Kapitän rief seine dienstfreien Offiziere aus dem Schlaf und verstärkte die Wachen. Er forderte den Bootsmannsmaat auf, die Mannschaftsräume zu kontrollieren. Dann setzte sich Petersen in den Schreibtischsessel.
»Das ist doch zum Verrücktwerden!«, stöhnte er.
Torfner sagte: »Herr Kapitän, Ihre Wachen hätten vorher ein wenig auf die Gören achten müssen. Die haben ohne Beanstandungen tüchtig getankt, und ihr Benehmen gab öfter Anlass zum Einschreiten. Das junge Ding gehört zu dieser Akkordeon-Gruppe.«
Petersen antwortete: »Das ist in der Tat ein Problem für uns an Bord. Besonders in der Saison, wenn die jungen Menschen zu drei Vierteln unsere Billigbuchungen ausmachen. Wir sind da bewusst großzügig, fast skandinavisch, denn wenn meine Leute einschreiten würden, wie uns das vorschwebt, hieße es sofort: die Deutschen!«
Der I. Offizier erschien und erkundigte sich nach dem Vorfall.
»Die Parallelen zum Mord an der Studentin sind nicht von der Hand zu weisen«, sagte er.
Petersen drückte die Sprechtaste und rief Dr. Mann an.
»Sie schafft es«, sagte der Arzt. »Aber sie kann nicht auf ihre Kabine. Sie muss sich auskotzen.
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